Dylan: Du bist mein liebster Fehler
Kapitel Eins
An manchen Tagen erinnerte die Opulenz des Memorial Country Clubs Rachel Baron daran, dass ihre Welt trotz ihres gewöhnlichen Berufs voller Privilegien und hoher Erwartungen war. Die elitärsten Mitglieder der Gesellschaft waren zusammengekommen, und die Luft war erfüllt von Lachen, klirrenden Gläsern und dem Summen angeregter Gespräche.
Unter dem Schein der riesigen Kristalllüster bewegte sie sich anmutig durch die Menschenmenge und durchquerte den Ballsaal. Sie blieb alle paar Meter stehen, um mit den Houstoner Prominenten, die sie seit ihrer Kindheit kannte, höfliche Worte und Luftküsse auszutauschen, und zwang ihren leeren Magen, nicht zu knurren. Die Tische mit den köstlichen Hors d’oeuvres rückten in greifbare Nähe. Wenn sie doch nur nicht mit so vielen Leuten plaudern müsste! Der berufliche Vorteil, die Enkelin eines ehemaligen Gouverneurs und die Cousine eines beliebten Senators zu sein, bestand darin, dass sie die bürokratischen Hürden umgehen und für ihre Restaurierungsprojekte auf schwer aufzutreibende Materialien zugreifen konnte. Die Kehrseite war, dass sie, egal wie groß ihr Hunger war, zu jedem, der sie erkannte, nett sein musste.
„Rachel, Liebes, dein Kleid ist einfach umwerfend.“ Eine ältere Brünette, deren grauer Haaransatz professionell nachgefärbt war – sie war Gast bei fast allen Spendenaktionen ihrer Großeltern für die vielen Wohltätigkeitsorganisationen, die ihre Familie unterstützte – lächelte breit und beugte sich für einen dieser Luftküsse vor, die Rachel verabscheute. „Die Farbe betont deine grünen Augen so schön.“
„Wie nett von dir. Du siehst ebenfalls umwerfend aus.“
Die Frau blähte sich auf wie ein Pfau. „Ich habe diese Woche bei Emily Whitestone zu Mittag gegessen. Du hast bei der Neugestaltung großartige Arbeit geleistet und das Alte und das Neue nahtlos ineinander übergehen lassen. Absolut wunderbar!“
Das brachte Rachel zum Lächeln. Bei dem Projekt hatte es sich um die Restaurierung einer veralteten Küche sowie eines Esszimmers gehandelt, einschließlich eines Anbaus, der sich in den Stil des Hauses aus den 1930er-Jahren hatte einfügen und gleichzeitig einem modernen Lebensstil gerecht werden sollen. „Vielen Dank. Das war ein tolles Projekt.“ Es hatte ihr sogar so viel Spaß gemacht, dass sie trotz ihrer Sehnsucht nach dem verlockenden Essen höflich weiter darüber plauderte.
Als die Freundin ihrer Großmutter zu jemand anderem weiterging, erreichte Rachel endlich den Buffet-Tisch, den sie schon den ganzen Abend aus der Ferne angeschmachtet hatte. Ihr Blick wanderte zwischen den mit Speck umwickelten Krabben, dem Kaviar und einigen Leckereien, von denen sie keine Ahnung hatte, was sie waren, hin und her. Sie war so hungrig, dass sie von allem probieren wollte.
„Hast du schon wieder das Abendessen ausfallen lassen?“ Ihr Cousin Mitch, der allseits beliebte Senator, trat neben sie.
„Wie kommst du darauf?“
Er lächelte sie an. „Du betrachtest alles so, wie ein Kind einen Bananensplit ansehen würde.“
„Hast du etwas davon probiert?“
„Die Shrimps sind sehr gut. Und Gwyneth liebt die Quinoa-Bällchen.“
Ihr Blick wanderte zu den runden Kugeln. „Oh, das ist das also.“
„Eines Tages wird jemand Schwein im Schlafrock servieren, und wir, die wir Fleisch und Kartoffeln über alles lieben, werden es ihm aus der Hand reißen.“
Ein lautes Lachen drang aus ihrer Kehle, bevor sie sich eine Hand vor den Mund schlagen konnte. Sie schaute über ihre Schulter, beugte sich vor und sagte mit leiser Stimme: „Ich hätte jetzt auch nichts gegen so etwas.“
„Ich weiß, denn ich kenne dich gut.“ Mitch grinste sie an. „Anderes Thema: Ich habe gehört, dass du die Restaurierung des Memorials bald abgeschlossen haben wirst.“
Rachel nickte. „Das stimmt. Es sollte in etwa zehn Tagen fertig sein.“
„Hast du schon von dem Haus der Hartwigs gehört?“
Eine ihrer Leidenschaften war die Architekturgeschichte des alten Houston. Das Hartwig-Haus war eine opulente Familienvilla gewesen, ein Prunkstück in einer Gegend, die man einst als Millionaire’s Row bezeichnet hatte. Zumindest bis der letzte Hartwig ohne Erben gestorben warund das einst wunderschöne alte Haus dem Verfall überlassen hatte. „Was ist damit? Hat es endlich jemand gekauft?“
„Nicht ganz.“ Mitch sah sich um. „Die Stadt hat es beschlagnahmt und will es eventuell abreißen lassen.“
„O nein!“ Vor Enttäuschung ließ sie die Schultern hängen. Rachel hasste es, wie bereitwillig die Stadt ältere Gebäude abriss, um neue zu errichten. Wenn es nach den hiesigen Behörden ginge, würden alle meisterhaften Bauten Europas durch moderne Klötze aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert ersetzt werden. „Das sollte als Verbrechen eingestuft werden.“
„Das habe ich auch gesagt.“ Gwyneth stellte sich neben ihren Verlobten und gab ihm unter Missachtung der gesellschaftlichen Normen für Veranstaltungen wie diese einen Kuss auf die Lippen, bevor sie sich Rachel zuwandte. „Lilian Prentiss erzählte mir, dass der, ich zitiere, hässliche, mit Brettern vernagelte Schandfleck und Magnet für jeden Landstreicher westlich des Mississippi endlich aus ihrem Viertel entfernt werden soll. Also habe ich bei Stadtrat Bates nachgefragt. Sie hat zum Teil recht.“
„Zu welchem Teil?“ Rachel widerstand dem Drang, ihre Finger zu kreuzen und ein Gebet für das arme alte Haus zu sprechen.
„Die Stadt ist nun Eigentümerin des Grundstücks, und das Bauamt und die Ingenieure sind sich einig, dass es nicht sicher ist und abgerissen werden muss. Es steht in der Tat auf der Liste der abzureißenden Gebäude.“
„Kurzsichtige …“ Bevor sie ihren wenig damenhaften Fluch zu Ende führen konnte, wurde sie von ihrer zukünftigen Schwieger-Cousine unterbrochen.
„Jetzt kommt der Teil, der dir sicher gefallen wird. Die Stadt hat ein neues Programm ins Leben gerufen, das eine Restaurierung verlassener Gebäude ermöglichen soll, anstatt sie abreißen zu lassen.“
Rachel runzelte die Stirn und ging alle Regierungsprogramme durch, mit denen sie zu tun hatte. Sie fragte sich, welches davon Gwyneth wohl gemeint hatte.
„Wer bereit ist, die Häuser innerhalb eines Jahres zu sanieren, kann die betreffenden Immobilien für einen Dollar erwerben.“
„Moment mal …“ Rachel schüttelte den Kopf. „Ist das nicht für einkommensschwache Viertel? Diejenigen, in denen es Meth-Häuser und Gang-Treffpunkte gibt?“
Immer noch lächelnd, nickte Gwyneth. „Ja, aber in dem Programm steht nichts über die Größe oder den Standort des Hauses, also wird Bürgermeister Borden es auf die Liste der Gebäude im Programm setzen. Es sei denn, du kannst dich an ihn wenden, bevor die Liste veröffentlicht wird.“
Die Vorstellung, ein derartiges historisches Juwel zu retten, ließ Rachels Herz höher schlagen. Das Hartwig-Haus war zwar von Weinreben überwachsen, jedoch konnte man deutlich erkennen, dass es in einem äußerst renovierungsbedürftigen Zustand war. Wenn das Innere so schlimm war wie das Äußere, wäre das Unterfangen gigantisch.
„Ich kenne dieses Glitzern in deinen Augen.“ Mitch blickte gen Himmel. „Der Allmächtige möge uns beistehen, aber ich habe Gwyneth gewarnt, dass du ein solches Projekt unwiderstehlich finden würdest.“
Unwiderstehlich. Damit hatte er sicherlich recht, aber tief in ihrem Inneren wollte sie mehr, als nur die Entwürfe zu zeichnen oder die Restaurierung zu überwachen. Rachel wollte die volle Kontrolle über das Projekt. Sie wollte sicherstellen, dass der Eigentümer kein Veto gegen ihre Vorschläge einlegte und dass sie das Recht hatte, Dienstleister nach eigenem Ermessen einzustellen oder sie zu entlassen, wenn sie ihren Erwartungen nicht entsprachen.
„Ich sagte doch, sie wird nicht widerstehen können.“ Mitch legte einen Arm um Gwyneths Taille. „Habe ich recht?“
Hatte er recht? Konnte sie sich das entgehen lassen? Würde sie es allein schaffen? Oder war sie völlig verrückt, weil sie es überhaupt in Betracht zog? Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ja, hast du.“ Diesem alten Haus wieder zu Glanz und Gloria zu verhelfen, würde der größte Spaß werden, den sie je gehabt hatte.
* * * *
Die texanische Sonne stand hoch am Himmel und warf ihre wärmenden Sonnenstrahlen über das ruhige Vorstadtviertel, in dem Dylan Schaefer Zuflucht vor den unerbittlichen Anforderungen des Geschäftslebens gesucht hatte. Das Blätterdach der riesigen Eichen und die weitläufigen grünen Wiesen hatten ihn in diese Gegend mit älteren Häusern gelockt wie eine Wüstenoase, die einem durstigen Mann Erfrischung bietet. Nicht, dass er bei seinem Sechzehn-Stunden-Tag viel Gelegenheit gehabt hätte, die üppigen Wiesen oder den blauen Himmel zu genießen …
Jetzt lag der Duft von frisch gehacktem Holz in der Luft, während er den Fortschritt der eichengetäfelten Wände und der eingebauten Bücherregale für das neue Büro seiner Nachbarin beobachtete. Die Arbeit mit den Händen versetzte ihn zurück in seine Kindheit und die Tage, an denen er seinem Großvater in der Werkstatt geholfen hatte. Seit dessen Tod hatte er keine Möbel mehr restauriert oder gebaut, und erst vor Kurzem war ihm klar geworden, wie sehr er die Arbeit mit Holz in all seinen Formen liebte und vermisst hatte. Besonders jetzt war es schön, sich dem alten Mann, den er so sehr geliebt hatte, näher zu fühlen. Erfreut über die Fortschritte, konzentrierte sich Dylan wieder auf seine eigentliche Aufgabe – den Bau einer Oase der Ruhe und Kreativität für die Frau, die so nett gewesen war zu bemerken, dass sein Auto seit Wochen nicht mehr die Einfahrt verlassen hatte.
Der plötzliche und tragische Tod seines Arbeitskollegen Jim war der Auslöser für Veränderungen gewesen, und zwar große Veränderungen. Jim, ein Kollege und enger Freund, war ebenso wie Dylan auf den Aufstieg in der Finanzbranche fixiert gewesen. Überarbeitet und überfordert, war Jim im Alter von neununddreißig Jahren einem stressbedingten Herzinfarkt erlegen. Das hatte Dylan bis ins Mark erschüttert und ihn dazu veranlasst, sein Leben neu zu definieren. Unfähig, sich auf etwas anderes als den Verlust seines Freundes zu konzentrieren, hatte er seinen angesammelten Urlaub vom Hedgefonds-Management genommen und ihn damit verbracht, sinnlos in seinem Haus herumzusitzen. Irgendwann hatte er seinen Werkzeugkasten herausgeholt und begonnen, an den schiefen Schränken in seiner Waschküche herumzubasteln.
Eigentlich hatte er sie nur ein wenig reparieren wollen, aber rasch war daraus ein richtiges Projekt geworden. Er hatte die billigen Schränke herausreißen und das Ganze nach seinen Vorstellungen mit Massivholz neu aufbauen wollen. Sein vorübergehender Abschied von der stressigen Finanzwelt hatte ihn an einen vertrauten Ort zurückgebracht – in die Welt des Handwerks und der Kreativität. Indem Dylan jedes einzelne Holzstück maß, in Form haute und sorgfältig zusammensetzte, war der Prozess zu einer Art Meditation geworden sowie zu einer Möglichkeit, seinen Kummer und seine Frustration in etwas Greifbares zu verwandeln.
Eines Tages war Meredith mit warmen Muffins in der Hand die Auffahrt hinauf in seinen Garten gekommen, wo er gerade die letzte Holzplatte zugeschnitten und abgeschliffen hatte. „Ich wusste nicht, dass du auch Schreiner bist.“
„Bin ich nicht. Normalerweise.“
Sie war mit den Fingern seitlich an der Holzplatte entlanggefahren. „Neue Küche?“
„Waschküche. Zeit für etwas Neues.“
„Darf ich mal sehen?“
Eigentlich hatte er nicht wirklich Lust auf Gesellschaft oder ein Gespräch gehabt, aber nur, weil er ständig schlecht gelaunt war, hatte er das nicht an Meredith auslassen müssen. In der neuen Waschküche waren ihr fast die Augen aus dem Kopf gefallen. „Heiliger Strohsack!“ Sie war mit den Händen über die maßgefertigten Schränke gefahren, als wären sie aus purem Gold. „Das ist ja unglaublich!“
Er hatte lediglich mit den Schultern gezuckt.
„Welche Art von Arbeitsflächen möchtest du verwenden?“
„Die da!“ Er zeigte auf die Arbeitsplatten in einer Ecke der angrenzenden Küche.
„Wo hast du die denn gekauft? Eine Freundin von mir führt Restaurierungsarbeiten durch und ist immer auf der Suche nach neuen Bezugsquellen.“
„Ich habe sie nicht gekauft.“
Sie machte große Augen, sodass sie aussah wie ein Reh, das im Scheinwerferlicht stand. „Die hast du auch selbst gemacht?“
Er nickte.
„Wow! Und ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.“
„Sorgen?“
„Dein Auto stand früher nie in der Einfahrt. Du arbeitest normalerweise mehr als die Elfen vom Weihnachtsmann in der Weihnachtswoche.“
Diese Analogie hätte ihn fast zum Lächeln gebracht. Fast.
„Jetzt steht dein Auto plötzlich wochenlang in der Einfahrt. Ehrlich gesagt, ich hatte schon Angst, dich tot auf dem Küchenboden zu finden.“
Sofort musste er an Jim denken und daran, wie geschockt alle bei der Nachricht gewesen waren, dass man ihn tot aufgefunden hatte. Er würde es niemandem wünschen, seine Leiche zu finden, schon gar nicht seiner besorgten Nachbarin. „Ich nehme mir eine Auszeit.“
Sie nickte und ging in die Küche, um die frisch geleimten und abgeschliffenen Arbeitsplatten zu befühlen. „Könnte ich dich vielleicht dazu überreden, etwas für mich zu machen?“
Etwas für sie machen? Als Schreiner? Die Möglichkeit, seinen Urlaub zu verlängern und für jemand anderen zu arbeiten, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Zu seiner Überraschung löste der Vorschlag kein kategorisches Nein in ihm aus. Im Gegenteil, er gefiel ihm sogar. Also nickte er ihr zu, und sobald er mit seiner Waschküche fertig gewesen war, hatte sich sein Urlaub in eine unbefristete Beurlaubung verwandelt. Und jetzt baute er ein maßgeschneidertes Büro.
Mit jedem Tag, der vergangen war, hatte er besser verstanden, dass die Entscheidung, eine Auszeit von den Vorstandsetagen und schicken Büros zu nehmen, für seine geistige Gesundheit notwendig gewesen war. Wenn das Büro fertig war, würde er seine Entscheidungen noch einmal überdenken müssen. Aber momentan hatte er wenig Lust, wieder hinter einem Schreibtisch zu hocken. Andererseits – war er wirklich bereit, alles aufzugeben, wofür er so hart gearbeitet hatte?
An manchen Tagen erinnerte die Opulenz des Memorial Country Clubs Rachel Baron daran, dass ihre Welt trotz ihres gewöhnlichen Berufs voller Privilegien und hoher Erwartungen war. Die elitärsten Mitglieder der Gesellschaft waren zusammengekommen, und die Luft war erfüllt von Lachen, klirrenden Gläsern und dem Summen angeregter Gespräche.
Unter dem Schein der riesigen Kristalllüster bewegte sie sich anmutig durch die Menschenmenge und durchquerte den Ballsaal. Sie blieb alle paar Meter stehen, um mit den Houstoner Prominenten, die sie seit ihrer Kindheit kannte, höfliche Worte und Luftküsse auszutauschen, und zwang ihren leeren Magen, nicht zu knurren. Die Tische mit den köstlichen Hors d’oeuvres rückten in greifbare Nähe. Wenn sie doch nur nicht mit so vielen Leuten plaudern müsste! Der berufliche Vorteil, die Enkelin eines ehemaligen Gouverneurs und die Cousine eines beliebten Senators zu sein, bestand darin, dass sie die bürokratischen Hürden umgehen und für ihre Restaurierungsprojekte auf schwer aufzutreibende Materialien zugreifen konnte. Die Kehrseite war, dass sie, egal wie groß ihr Hunger war, zu jedem, der sie erkannte, nett sein musste.
„Rachel, Liebes, dein Kleid ist einfach umwerfend.“ Eine ältere Brünette, deren grauer Haaransatz professionell nachgefärbt war – sie war Gast bei fast allen Spendenaktionen ihrer Großeltern für die vielen Wohltätigkeitsorganisationen, die ihre Familie unterstützte – lächelte breit und beugte sich für einen dieser Luftküsse vor, die Rachel verabscheute. „Die Farbe betont deine grünen Augen so schön.“
„Wie nett von dir. Du siehst ebenfalls umwerfend aus.“
Die Frau blähte sich auf wie ein Pfau. „Ich habe diese Woche bei Emily Whitestone zu Mittag gegessen. Du hast bei der Neugestaltung großartige Arbeit geleistet und das Alte und das Neue nahtlos ineinander übergehen lassen. Absolut wunderbar!“
Das brachte Rachel zum Lächeln. Bei dem Projekt hatte es sich um die Restaurierung einer veralteten Küche sowie eines Esszimmers gehandelt, einschließlich eines Anbaus, der sich in den Stil des Hauses aus den 1930er-Jahren hatte einfügen und gleichzeitig einem modernen Lebensstil gerecht werden sollen. „Vielen Dank. Das war ein tolles Projekt.“ Es hatte ihr sogar so viel Spaß gemacht, dass sie trotz ihrer Sehnsucht nach dem verlockenden Essen höflich weiter darüber plauderte.
Als die Freundin ihrer Großmutter zu jemand anderem weiterging, erreichte Rachel endlich den Buffet-Tisch, den sie schon den ganzen Abend aus der Ferne angeschmachtet hatte. Ihr Blick wanderte zwischen den mit Speck umwickelten Krabben, dem Kaviar und einigen Leckereien, von denen sie keine Ahnung hatte, was sie waren, hin und her. Sie war so hungrig, dass sie von allem probieren wollte.
„Hast du schon wieder das Abendessen ausfallen lassen?“ Ihr Cousin Mitch, der allseits beliebte Senator, trat neben sie.
„Wie kommst du darauf?“
Er lächelte sie an. „Du betrachtest alles so, wie ein Kind einen Bananensplit ansehen würde.“
„Hast du etwas davon probiert?“
„Die Shrimps sind sehr gut. Und Gwyneth liebt die Quinoa-Bällchen.“
Ihr Blick wanderte zu den runden Kugeln. „Oh, das ist das also.“
„Eines Tages wird jemand Schwein im Schlafrock servieren, und wir, die wir Fleisch und Kartoffeln über alles lieben, werden es ihm aus der Hand reißen.“
Ein lautes Lachen drang aus ihrer Kehle, bevor sie sich eine Hand vor den Mund schlagen konnte. Sie schaute über ihre Schulter, beugte sich vor und sagte mit leiser Stimme: „Ich hätte jetzt auch nichts gegen so etwas.“
„Ich weiß, denn ich kenne dich gut.“ Mitch grinste sie an. „Anderes Thema: Ich habe gehört, dass du die Restaurierung des Memorials bald abgeschlossen haben wirst.“
Rachel nickte. „Das stimmt. Es sollte in etwa zehn Tagen fertig sein.“
„Hast du schon von dem Haus der Hartwigs gehört?“
Eine ihrer Leidenschaften war die Architekturgeschichte des alten Houston. Das Hartwig-Haus war eine opulente Familienvilla gewesen, ein Prunkstück in einer Gegend, die man einst als Millionaire’s Row bezeichnet hatte. Zumindest bis der letzte Hartwig ohne Erben gestorben warund das einst wunderschöne alte Haus dem Verfall überlassen hatte. „Was ist damit? Hat es endlich jemand gekauft?“
„Nicht ganz.“ Mitch sah sich um. „Die Stadt hat es beschlagnahmt und will es eventuell abreißen lassen.“
„O nein!“ Vor Enttäuschung ließ sie die Schultern hängen. Rachel hasste es, wie bereitwillig die Stadt ältere Gebäude abriss, um neue zu errichten. Wenn es nach den hiesigen Behörden ginge, würden alle meisterhaften Bauten Europas durch moderne Klötze aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert ersetzt werden. „Das sollte als Verbrechen eingestuft werden.“
„Das habe ich auch gesagt.“ Gwyneth stellte sich neben ihren Verlobten und gab ihm unter Missachtung der gesellschaftlichen Normen für Veranstaltungen wie diese einen Kuss auf die Lippen, bevor sie sich Rachel zuwandte. „Lilian Prentiss erzählte mir, dass der, ich zitiere, hässliche, mit Brettern vernagelte Schandfleck und Magnet für jeden Landstreicher westlich des Mississippi endlich aus ihrem Viertel entfernt werden soll. Also habe ich bei Stadtrat Bates nachgefragt. Sie hat zum Teil recht.“
„Zu welchem Teil?“ Rachel widerstand dem Drang, ihre Finger zu kreuzen und ein Gebet für das arme alte Haus zu sprechen.
„Die Stadt ist nun Eigentümerin des Grundstücks, und das Bauamt und die Ingenieure sind sich einig, dass es nicht sicher ist und abgerissen werden muss. Es steht in der Tat auf der Liste der abzureißenden Gebäude.“
„Kurzsichtige …“ Bevor sie ihren wenig damenhaften Fluch zu Ende führen konnte, wurde sie von ihrer zukünftigen Schwieger-Cousine unterbrochen.
„Jetzt kommt der Teil, der dir sicher gefallen wird. Die Stadt hat ein neues Programm ins Leben gerufen, das eine Restaurierung verlassener Gebäude ermöglichen soll, anstatt sie abreißen zu lassen.“
Rachel runzelte die Stirn und ging alle Regierungsprogramme durch, mit denen sie zu tun hatte. Sie fragte sich, welches davon Gwyneth wohl gemeint hatte.
„Wer bereit ist, die Häuser innerhalb eines Jahres zu sanieren, kann die betreffenden Immobilien für einen Dollar erwerben.“
„Moment mal …“ Rachel schüttelte den Kopf. „Ist das nicht für einkommensschwache Viertel? Diejenigen, in denen es Meth-Häuser und Gang-Treffpunkte gibt?“
Immer noch lächelnd, nickte Gwyneth. „Ja, aber in dem Programm steht nichts über die Größe oder den Standort des Hauses, also wird Bürgermeister Borden es auf die Liste der Gebäude im Programm setzen. Es sei denn, du kannst dich an ihn wenden, bevor die Liste veröffentlicht wird.“
Die Vorstellung, ein derartiges historisches Juwel zu retten, ließ Rachels Herz höher schlagen. Das Hartwig-Haus war zwar von Weinreben überwachsen, jedoch konnte man deutlich erkennen, dass es in einem äußerst renovierungsbedürftigen Zustand war. Wenn das Innere so schlimm war wie das Äußere, wäre das Unterfangen gigantisch.
„Ich kenne dieses Glitzern in deinen Augen.“ Mitch blickte gen Himmel. „Der Allmächtige möge uns beistehen, aber ich habe Gwyneth gewarnt, dass du ein solches Projekt unwiderstehlich finden würdest.“
Unwiderstehlich. Damit hatte er sicherlich recht, aber tief in ihrem Inneren wollte sie mehr, als nur die Entwürfe zu zeichnen oder die Restaurierung zu überwachen. Rachel wollte die volle Kontrolle über das Projekt. Sie wollte sicherstellen, dass der Eigentümer kein Veto gegen ihre Vorschläge einlegte und dass sie das Recht hatte, Dienstleister nach eigenem Ermessen einzustellen oder sie zu entlassen, wenn sie ihren Erwartungen nicht entsprachen.
„Ich sagte doch, sie wird nicht widerstehen können.“ Mitch legte einen Arm um Gwyneths Taille. „Habe ich recht?“
Hatte er recht? Konnte sie sich das entgehen lassen? Würde sie es allein schaffen? Oder war sie völlig verrückt, weil sie es überhaupt in Betracht zog? Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ja, hast du.“ Diesem alten Haus wieder zu Glanz und Gloria zu verhelfen, würde der größte Spaß werden, den sie je gehabt hatte.
* * * *
Die texanische Sonne stand hoch am Himmel und warf ihre wärmenden Sonnenstrahlen über das ruhige Vorstadtviertel, in dem Dylan Schaefer Zuflucht vor den unerbittlichen Anforderungen des Geschäftslebens gesucht hatte. Das Blätterdach der riesigen Eichen und die weitläufigen grünen Wiesen hatten ihn in diese Gegend mit älteren Häusern gelockt wie eine Wüstenoase, die einem durstigen Mann Erfrischung bietet. Nicht, dass er bei seinem Sechzehn-Stunden-Tag viel Gelegenheit gehabt hätte, die üppigen Wiesen oder den blauen Himmel zu genießen …
Jetzt lag der Duft von frisch gehacktem Holz in der Luft, während er den Fortschritt der eichengetäfelten Wände und der eingebauten Bücherregale für das neue Büro seiner Nachbarin beobachtete. Die Arbeit mit den Händen versetzte ihn zurück in seine Kindheit und die Tage, an denen er seinem Großvater in der Werkstatt geholfen hatte. Seit dessen Tod hatte er keine Möbel mehr restauriert oder gebaut, und erst vor Kurzem war ihm klar geworden, wie sehr er die Arbeit mit Holz in all seinen Formen liebte und vermisst hatte. Besonders jetzt war es schön, sich dem alten Mann, den er so sehr geliebt hatte, näher zu fühlen. Erfreut über die Fortschritte, konzentrierte sich Dylan wieder auf seine eigentliche Aufgabe – den Bau einer Oase der Ruhe und Kreativität für die Frau, die so nett gewesen war zu bemerken, dass sein Auto seit Wochen nicht mehr die Einfahrt verlassen hatte.
Der plötzliche und tragische Tod seines Arbeitskollegen Jim war der Auslöser für Veränderungen gewesen, und zwar große Veränderungen. Jim, ein Kollege und enger Freund, war ebenso wie Dylan auf den Aufstieg in der Finanzbranche fixiert gewesen. Überarbeitet und überfordert, war Jim im Alter von neununddreißig Jahren einem stressbedingten Herzinfarkt erlegen. Das hatte Dylan bis ins Mark erschüttert und ihn dazu veranlasst, sein Leben neu zu definieren. Unfähig, sich auf etwas anderes als den Verlust seines Freundes zu konzentrieren, hatte er seinen angesammelten Urlaub vom Hedgefonds-Management genommen und ihn damit verbracht, sinnlos in seinem Haus herumzusitzen. Irgendwann hatte er seinen Werkzeugkasten herausgeholt und begonnen, an den schiefen Schränken in seiner Waschküche herumzubasteln.
Eigentlich hatte er sie nur ein wenig reparieren wollen, aber rasch war daraus ein richtiges Projekt geworden. Er hatte die billigen Schränke herausreißen und das Ganze nach seinen Vorstellungen mit Massivholz neu aufbauen wollen. Sein vorübergehender Abschied von der stressigen Finanzwelt hatte ihn an einen vertrauten Ort zurückgebracht – in die Welt des Handwerks und der Kreativität. Indem Dylan jedes einzelne Holzstück maß, in Form haute und sorgfältig zusammensetzte, war der Prozess zu einer Art Meditation geworden sowie zu einer Möglichkeit, seinen Kummer und seine Frustration in etwas Greifbares zu verwandeln.
Eines Tages war Meredith mit warmen Muffins in der Hand die Auffahrt hinauf in seinen Garten gekommen, wo er gerade die letzte Holzplatte zugeschnitten und abgeschliffen hatte. „Ich wusste nicht, dass du auch Schreiner bist.“
„Bin ich nicht. Normalerweise.“
Sie war mit den Fingern seitlich an der Holzplatte entlanggefahren. „Neue Küche?“
„Waschküche. Zeit für etwas Neues.“
„Darf ich mal sehen?“
Eigentlich hatte er nicht wirklich Lust auf Gesellschaft oder ein Gespräch gehabt, aber nur, weil er ständig schlecht gelaunt war, hatte er das nicht an Meredith auslassen müssen. In der neuen Waschküche waren ihr fast die Augen aus dem Kopf gefallen. „Heiliger Strohsack!“ Sie war mit den Händen über die maßgefertigten Schränke gefahren, als wären sie aus purem Gold. „Das ist ja unglaublich!“
Er hatte lediglich mit den Schultern gezuckt.
„Welche Art von Arbeitsflächen möchtest du verwenden?“
„Die da!“ Er zeigte auf die Arbeitsplatten in einer Ecke der angrenzenden Küche.
„Wo hast du die denn gekauft? Eine Freundin von mir führt Restaurierungsarbeiten durch und ist immer auf der Suche nach neuen Bezugsquellen.“
„Ich habe sie nicht gekauft.“
Sie machte große Augen, sodass sie aussah wie ein Reh, das im Scheinwerferlicht stand. „Die hast du auch selbst gemacht?“
Er nickte.
„Wow! Und ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.“
„Sorgen?“
„Dein Auto stand früher nie in der Einfahrt. Du arbeitest normalerweise mehr als die Elfen vom Weihnachtsmann in der Weihnachtswoche.“
Diese Analogie hätte ihn fast zum Lächeln gebracht. Fast.
„Jetzt steht dein Auto plötzlich wochenlang in der Einfahrt. Ehrlich gesagt, ich hatte schon Angst, dich tot auf dem Küchenboden zu finden.“
Sofort musste er an Jim denken und daran, wie geschockt alle bei der Nachricht gewesen waren, dass man ihn tot aufgefunden hatte. Er würde es niemandem wünschen, seine Leiche zu finden, schon gar nicht seiner besorgten Nachbarin. „Ich nehme mir eine Auszeit.“
Sie nickte und ging in die Küche, um die frisch geleimten und abgeschliffenen Arbeitsplatten zu befühlen. „Könnte ich dich vielleicht dazu überreden, etwas für mich zu machen?“
Etwas für sie machen? Als Schreiner? Die Möglichkeit, seinen Urlaub zu verlängern und für jemand anderen zu arbeiten, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Zu seiner Überraschung löste der Vorschlag kein kategorisches Nein in ihm aus. Im Gegenteil, er gefiel ihm sogar. Also nickte er ihr zu, und sobald er mit seiner Waschküche fertig gewesen war, hatte sich sein Urlaub in eine unbefristete Beurlaubung verwandelt. Und jetzt baute er ein maßgeschneidertes Büro.
Mit jedem Tag, der vergangen war, hatte er besser verstanden, dass die Entscheidung, eine Auszeit von den Vorstandsetagen und schicken Büros zu nehmen, für seine geistige Gesundheit notwendig gewesen war. Wenn das Büro fertig war, würde er seine Entscheidungen noch einmal überdenken müssen. Aber momentan hatte er wenig Lust, wieder hinter einem Schreibtisch zu hocken. Andererseits – war er wirklich bereit, alles aufzugeben, wofür er so hart gearbeitet hatte?