Brooks' verbotene Sehnsucht
Kapitel Eins
Brooks Farraday streifte seine OP-Handschuhe ab und schleuderte sie quer durch den Raum. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um die achtzigjährige Frau zu stabilisieren, doch Sam hatte zu lange damit gewartet, Liza einzuliefern. Es gab nichts, was Brooks noch tun konnte und die nächste medizinische Einrichtung, die eine Notoperation am Herzen durchführen konnte, war mehr als eine Stunde entfernt. Frustration machte sich in ihm breit, als er den Raum durchquerte, die Handschuhe vom Boden aufhob und sie in den Mülleimer warf. Verdammt, er hasste solche Tage.
Sam jetzt gegenüberzutreten war das Letzte, was er wollte. Erst vergangene Woche war die ganze Gemeinde zu ihrem sechzigsten Hochzeitstag zusammengekommen. Brooks‘ Praxis hier war klein: ein Wartezimmer, eine zu einem Labor umfunktionierte Küche, eine Abstellkammer, die als sein Büro diente, und zwei Untersuchungszimmer. Selbst ein Marsch durch die Flure des Taj Mahal wären nicht lang genug gewesen, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Sam und eine Handvoll seiner und Lizas acht Kinder starrten Brooks an. So sehr er sich auch bemühte, in solchen Situationen Emotion zu vermeiden, war ihm der Verlust dennoch anzusehen. Zwei der Töchter brachen in Tränen aus.
„Es tut mir so leid“, sagte er.
Sam, ein grauhaariger und drahtiger Mann, senkte den Kopf. „Du hast alles getan, was du konntest. Das weiß ich. Liza und ich sind dir dafür sehr dankbar.“ Der alte Mann drehte sich um und ging zur Tür hinaus, bevor Brooks ihm anbieten konnte, sich noch ein letztes Mal zu verabschieden.
„Wir wussten, der Tag würde kommen, Brooks. Moms Herz war schon fast ein Jahrzehnt lang nicht mehr das beste.“ Sam und Lizas ältester Sohn gab Brooks einen Klaps auf den Arm, ließ seinen Blick durch den kleinen Raum schweifen und wandte sich dann ab. „Ich sollte besser zu Dad gehen.“
In einem Strudel von Bewegungen sprachen die übrigen Geschwister ein paar Worte, bevor sie ihrem Vater folgten.
Nora Brown, seine Krankenschwester, tauchte hinter ihm auf. „Ich habe Andy vom Bestattungsinstitut angerufen. Er ist auf dem Weg hierher.“
Brooks senkte den Kopf. Es war seine Aufgabe, Leben retten.
„Außerdem hat Meg angerufen und wollte dich an den Besuch ihrer Freundin erinnern. Sie schlug vor, heute Abend mit ihnen zu essen.“
Er ließ seine Augen zufallen und stieß einen müden Seufzer aus. Ihm war nicht nach Geselligkeit zumute.
„Ich soll dir auch ausrichten, dass Freitagabend auch in Ordnung wäre, wenn dir das besser passt.“
Seine zukünftige Schwägerin schien in der Lage zu sein, seine Gedanken vom anderen Ende der Stadt aus zu lesen, noch bevor er wusste, was er dachte. Gott möge seinem Bruder Adam beistehen. Aus Vorfreude auf die Ankunft ihrer Collegefreundin zur Hochzeit war Meg tagelang, wie ein kleines Mädchen mit einem neuen Springseil, herumgehüpft. Doch gestern hatte sie ihn plötzlich angerufen, weil sie sich wegen ihres seltsamen Verhaltens Sorgen um ihre Freundin machte. Sie hatte Brooks gebeten, zum Abendessen vorbeizukommen, um zu sehen, ob es auch anderen auffiel. Er nickte Nora zu, die geduldig auf seine Antwort wartete. „Danke. Ich werde ihr eine —"
Die Eingangstür flog auf und Paul Brady kam hereingestürmt. „Es ist so weit, Doc. Betty Sue, sie ist im Auto. Sagt, sie bewegt sich nicht. Sie hat mich geschickt, um dich zu holen.“
Brooks machte kehrt und rief über seine Schulter: „Wie lange hat sie schon Wehen?“
„Keine Ahnung. Aber die Schmerzen kommen im Abstand von fünf Minuten.“
Brooks ging schnellen Schritts zu dem Auto, das mit einem Reifen schief auf dem Bordstein stand. Er musste wegen dieses verrückten Parkversuchs fast lachen. Erstlingseltern.
Der werdende Vater kam vor ihm beim Auto an und riss die Beifahrertür auf.
„Hey, Doc“, sagte Betty Sue mit zusammengebissenen Zähnen.
„Wie läuft’s denn so? Meinst du, wir können dich reinbringen?“
Betty Sue hechelte sich durch eine Wehe, nickte und atmete dann lange und tief aus. „Eigentlich möchte ich gerne pressen, aber wenn du mir kurz helfen könntest.“ Sie streckte ihren Arm aus und beugte sich nach vorne. „Mit der Hilfe von unserem Ricky Ricardo hier war ich mir nicht sicher, ob wir es schaffen würden.“
Diesmal musste Brooks über die Anspielung auf Alle lieben Lucy wirklich kichern. Es fiel ihm nicht schwer, sich Paul Brady so zerstreut vorzustellen, wie Ricky Ricardo es war, als sein TV-Sohn geboren wurde. „Wenigstens hat er dich nicht vergessen“, sagte Brooks mit einem trägen Lächeln, während er seinen Arm um Betty Sue legte und sie auf ihre Beine hievte. Erst jetzt bemerkte er den wütenden Blick, den sie ihrem Mann zuwarf. „Echt jetzt?“
„Ja, hat er. Er war schon fast aus der Einfahrt, bevor er wendete, um mich zu holen.“ Betty Sue schaffte es gerade einmal bis zur Türschwelle, bevor sie sich unter einer weiteren Wehe krümmte.
„Atmen“, ermutigte sie Brooks. Nach seiner Einschätzung lagen ihre Wehen nur noch zwei oder drei Minuten auseinander. Wenn sie sich nicht beeilten und sie hineinbrachten, konnte es gut sein, dass er dieses Baby auf dem Bürgersteig zur Welt brachte. „Wie lange hast du schon Wehen?“
Die hochschwangere Frau atmete erneut tief aus. „Ich bin heute Morgen gegen fünf Uhr von ein paar Scheinwehen aufgewacht, aber gegen sieben wurde mir klar, dass es richtige Wehen waren. Nicht allzu nah beieinander. Ich habe mich auf einen langen Tag vorbereitet.“ Sie ging weiter in das Wartezimmer. „Aber vor etwa einer Stunde fingen sie an, sehr schnell zu kommen.“
„Nun, es sieht so aus, als hätte es Paul Junior für dein erstes Baby sehr eilig.“
Andy, vom Bestattungsinstitut, kam durch die offene Tür und blieb abrupt stehen. Er war so klug, zu warten, bis Brooks und seine Patientin am ersten Untersuchungszimmer vorbei waren, bevor er Nora fragend ansah.
„Zimmer eins“, sagte Nora nur.
Im zweiten Untersuchungszimmer setzten Brooks und Paul Betty Sue auf die Behandlungsliege. Dieser Raum war etwas größer als das erste Untersuchungszimmer und diente mit einem schönen Bett und heimeligen Dekorationen auch als Geburtsraum. Hinter ihnen kam Nora herein und stellte Sauerstoff bereit. Nur für den Fall.
„Lass mich mal sehen.“ Wie Brooks erwartet hatte, war Betty Sues Muttermund vollständig geweitet. Baby Paul war bereit für seinen Auftritt. „Ich weiß, dass du pressen willst, aber ich brauche noch ein paar Sekunden.“
Sich durch eine weitere Wehe hechelnd, nickte Betty Sue und streckte die Hand nach ihrem Ehemann aus. Die Geburt verlief routinemäßig und sehr zügig und innerhalb von nur fünfzehn Minuten erblickte Paul Brady Junior das Licht der Welt.
„Bereit, deinen Sohn zu halten?“, fragte Brooks Betty Sue.
Mit einem Lächeln, das strahlender war als das eines Kindes am Weihnachtsmorgen, streckte die frischgebackene Mutter ihre Arme aus. Paul küsste die Stirn seiner Frau und dann den Kopf des winzigen Jungen.
„Wir müssen ihn wiegen und ein paar Standardtests durchführen, aber das kann noch ein paar Minuten warten, damit ihr drei euch kennenlernen könnt.“ Brooks trat zurück, seinen Blick auf das Neugeborene gerichtet. Der Kreislauf des Lebens. „Willkommen in der Welt, junger Mann. Willkommen in der Welt.“
* * *
„Ich gehe mit und erhöhe um fünf.“ Antoinette Castellano-Bennett warf ein paar Chips in den wachsenden Stapel. Als sie sich vorgestellt hatte, wie es sein würde, nach West-Texas zu kommen und ihre Zimmergenossin vom College zu besuchen, war Pokern mit den alten Leuten nicht der Zeitvertreib gewesen, der ihr in den Sinn gekommen war.
„Ich bin raus.“ Dorothy Wilson, eine liebenswürdige und freundliche ältere Dame, legte ihre Karten verdeckt auf den Tisch.
„Ich auch.“ Sally May, eine attraktive Frau mit hochgesteckten, graumelierten Haaren und mit einem Deutschen Schäferhund zu ihren Füßen, legte ihre Karten mit einem Seufzen ab.
„Dann bleibe wohl nur noch ich übrig.“ Eileen Callahan, die Matriarchin der Familie, in die Tonis Freundin einheiratete, grinste so breit wie der texanische Horizont. Mit einer Hand warf sie noch mehr Chips in den Pott, während sie mit der anderen ihre fünf Karten offen vor sich hinlegte. „Drei Asse.“
Das letzte Mitglied der Truppe, Ruth Ann, stieß ein frustriertes Stöhnen aus. Die kleine, sehr dünne Frau mit den zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden langen, grauen Haaren, erinnerte Toni in ihren Jeans und dem blauen Langarmshirt an das, was sie sich unter der Frau eines Ranchers vorgestellt hatte. Nur dass sie nicht über Rinder oder Hühner sprach, sondern jeder zweite Satz etwas mit ihrer kürzlich erfolgten Ballen-OP zu tun hatte. „Damit bin ich raus. Ich habe nur zwei Paare.“
Somit hatte nur noch Toni Karten in der Hand. „Tut mir leid, Ladys. Full House: drei Damen und ein Paar Zehner.“
„Ich werde mal zur Damentoilette spazieren.“ Sally May richtete sich auf. „Vielleicht bringt mir das Glück.“
Eileen sammelte die Karten vom Tisch ein. „Also, erzähl uns doch mehr über deinen viel-reisenden Ehemann.“
Während Toni ihre gewonnenen Chips in farblich passende Stapel aufteilte, überlegte sie, was sie sagen sollte. Der Anruf, der ihren Mann dazu veranlasst hatte, seine Koffer zu packen und zum Logan Airport zu eilen, um einen Flug in eines dieser Irgendwas-stan Länder anzutreten, war ein unerwartetes Geschenk gewesen. William arbeitete eigentlich nicht mehr auf Baustellen im Ausland, aber als der Projektbeauftragte Ingenieur auf dem Weg zum Flughafen einen schweren Herzinfarkt erlitt, suchten die Partner händeringend nach einem Ersatzprojektleiter, und William war der Einzige, der flexibel und qualifiziert genug war, um das zu erledigen.
Die Erinnerung an die grauenvolle zwanzigminütige Hektik ließ sie ihre Chips noch fester umklammern.
„Verdammt noch mal, Antoinette. Da ist zu viel Stärke in meinen Hemden. Schon wieder.“
„Es tut mir leid.“ Sie hasste es, Hemden zu bügeln. „Vielleicht ist dieses hier—“
William riss ihr das Hemd aus der Hand und stopfte es in seinen Koffer. „Ich will das Hemd nicht im Flugzeug tragen.“
Toni wich aus seiner Reichweite zurück. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal machen.
„Wenn dieser dumme Heini in der Reinigung die Stärke richtig hinbekommt, gibt es keinen Grund, warum du das nicht auch hinbekommen solltest. Man muss kein Rhodes-Stipendiat sein, um ein Hemd zu bügeln.“
„Toni?“ Eileens Hände hatten mitten unterm Mischen aufgehört und ihre Augenbrauen waren besorgt zusammengekniffen.
„Sorry, ich war mit den Gedanken woanders. Ja. William reist nicht mehr viel. Er passt gut auf mich auf. Mag es überhaupt nicht, von mir getrennt zu sein, aber dieses Mal hatte er keine Wahl.“
„Nun, es war ein großer Zufall, dass seine längere Reise mit meiner Hochzeit zusammenfällt, auch wenn ich meine besten Überredungskünste einsetzen musste, um dich dazu zu bringen, mich jetzt schon zu besuchen und nicht erst am Hochzeitswochenende.“ Meg O'Brien – zukünftige Farraday – stellte sich mit einer Kaffeekanne in der Hand neben Toni. „Klingt, als wäre er ein sehr liebevoller Ehemann geworden.“
„Ja, liebevoll.“ Toni zwang sich zu dem Ich bin so glücklich verheiratet-Plastiklächeln, das sie in der Öffentlichkeit immer aufsetzte. Unter dem Tisch die Hände zu Fäusten ballend, verdrängte sie die letzten Worte ihres Mannes auf dem Weg zur Tür.
„Ich weiß nicht, wie zuverlässig die Satelliten in diesem gottverlassenen provisorischen Ingenieurslager sind. Vergiss um Gottes willen nicht, dein Handy aufzuladen. Oder noch besser, bleib in der Nähe des Hauses. Wer weiß, was ich in dieser armseligen Gegend noch alles brauchen werde ...“
Sie wusste, was in der Nähe des Hauses bedeutete. Nicht, als wäre es hart, das einzuhalten. Wo konnte sie schon hin?
„Meine Mutter wird in ein paar Wochen von ihrer Kreuzfahrt heimkehren. Wenn sie zurückkommt, werde ich dafür sorgen, dass du bei ihr wohnst, solange ich weg bin.“ Sein Blick huschte durch die makellose Wohnung. „Wenn ich es irgendwie einrichten kann, bin ich früher als in drei Monaten wieder da. Dieses Drecksloch ist kein Ort für einen Mann wie mich.“
Sie nickte. Sie war sich nicht sicher, was er als nächstes von ihr erwartete. Würde er jetzt wollen, dass sie ihm den Rest seiner Sachen reichte, damit das Packen schneller ging, oder war das der Zeitpunkt, an dem nichts, was sie tat, richtig war? Der Wutausbruch über das Hemd hatte sie glauben lassen, dass es besser wäre, auf Anweisungen zu warten. Vielleicht.
„Meg hat Recht.“ Eileen verteilte die Karten „Es ist immer schön, Freunde zu Besuch zu haben. Und sie hat mir erzählt, dass du auch eine gute Köchin bist? Sie muss ein bisschen gemästet werden. Da sie jeden Morgen hier arbeitet und den Rest der Zeit dieses alte Haus renoviert, ist sie bald nur noch Haut und Knochen. Da fällt mir ein.“ Während sie ihre Karten sortierte, schaute Eileen über ihre Schulter zu Meg. „Ich bin fast fertig mit den Gardinen für die alte Stube. Das sind die letzten Vorhänge.“
„Klingt, als wäre es Zeit für eine Dekorationsparty.“ Sally May hob ihre Karten auf.
Eileen nickte. „Es hat Spaß gemacht, das alte Haus wieder zum Leben zu erwecken.“
Nach dem, was Meg Toni erzählt hatte, verbrachte der Farraday-Clan mehr Zeit damit, das alte viktorianische Haus herzurichten, als sie in ihre eigenen Häuser investiert hatten. Meg schien jede Minute davon zu genießen, plötzlich Teil einer großen, eng zusammengeschweißten Familie zu sein. Toni konnte sich das nicht vorstellen. Wann immer die Familie ihres Mannes in Boston aufkreuzte, war Hilfsbereitschaft nicht das erste Wort, das ihr in den Sinn kam.
„Klingt gut.“ Ein Kunde vom anderen Ende des Cafés winkte Meg herüber und sie verschwand in seine Richtung.
Als Toni William heiratete und sich im belebten Herzen von Bostons Back Bay niederließ, dachte sie, sie hätte im Lotto gewonnen. Doch jetzt, wo sie sah, wie Meg lächelte und von Tisch zu Tisch flatterte und von innen heraus strahlte, fragte sich Toni, ob sie jemals so glücklich gewesen war. Ohne ihre Karten richtig zu betrachten, warf Toni sie auf den Tisch. „Ich glaube, ich setze dieses Mal aus. Ich könnte ein wenig frische Luft gebrauchen.“
„Oh, gut.“ Ruth Ann sprang lachend auf. „Ich setze mich auf den heißen Platz, solange sie weg ist.“
Meg eilte zurück zum Tisch. „Willst du schon gehen? Ich habe nur noch etwa eine halbe Stunde, bis Shannon kommt.“
„Ich wollte mir eigentlich nur die Beine vertreten, aber vielleicht wäre ein schöner Spaziergang nach Hause besser.“
Meg musterte sie ein wenig länger, als ihr lieb gewesen wäre. „Gute Idee. Die Hintertür ist nicht verschlossen. Ich komme so schnell wie möglich nach.“
„Keine Eile.“
„Findest du den Weg?“
Toni musste fast lachen. Die Stadt war nicht besonders groß, und das, was es gab, war in einem einfachen Raster gebaut worden. Sie würde keine fünfzehn Minuten brauchen, um die Hauptstraße hinunterzulaufen und dann in Megs Block einzubiegen. „Ich komme schon zurecht.“
„Sehen wir dich am Samstag zum Kartenspielen?“ Dorothy Wilson blickte auf. „Nora ist samstags dabei.“
„Ich weiß nicht. Kommt darauf an, wieviel Arbeit noch bei Meg erledigt werden muss“, sagte Toni.
„Arbeit, von wegen!“ Meg zwinkerte ihrer Freundin zu. „Am Samstag fahren wir nach Abilene. Ich muss noch ein paar Einkäufe machen.“
„Ich bin dabei.“ Toni lächelte ihre Freundin an und bemerkte, dass sie zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wirklich aus tiefstem Herzen lächelte.
Obwohl sie die Läden auf der Main Street schon beim Fahren durch die Stadt gesehen hatte, nahm sie sich jetzt die Zeit, die Leute zu beobachten, die kamen und gingen, und die Schaufenster etwas länger zu betrachten. Das Innere des Cut and Curl sah so aus, als hätte es sich seit dem Tag, an dem es gebaut worden war, nicht viel verändert. An der Rückwand waren mehrere der altmodischen riesigen Haartrockner aneinandergereiht. Sogar jetzt saßen dort zwei Frauen Seite an Seite und blätterten in Zeitschriften.
Wenn Toni sich West-Texas vorstellte, hatte sie eine Vision von Clint Eastwood, der Kühe durch eine Stadt mit hölzernen Bürgersteigen jagte. An Andy Griffiths Mayberry hatte sie nicht gedacht.
Als sie gerade um die Ecke in Megs Straße biegen wollte, erregte ein dumpfes Wuff ihre Aufmerksamkeit. Da sie noch zu weit von den Wohnhäusern entfernt war, um in der Nähe eines Gartens mit einem Hund zu sein, hielt sie inne und sah sich um. Nichts. Nach ein paar weiteren Schritten hörte sie es wieder, nur dass das Geräusch dieses Mal mehr wie ein Winseln klang. Woher kam es?
Toni nahm sich Zeit, die Gegend abzusuchen, und ging langsam und vorwärts, wobei sie aufmerksam lauschte. Da war es wieder, ein wenig lauter, und es kam von der anderen Straßenseite. Sie verließ den Bordstein und forderte das Tier geradezu auf, sich zu zeigen. Eine Bewegung im Gebüsch neben einem mit Brettern verkleideten Haus verriet ihr, dass sie in die richtige Richtung ging, als eine schwarze Schnauze auftauchte, gefolgt von einem felligen Körper und schließlich einem hängenden Schwanz. Das Tier kam auf sie zu ... Und es hinkte.
Für einen kurzen Moment hatte sie gedacht, es könnte Sally Mays Schäferhund sein, aber dann stellte sie fest, dass dieser Hund eher grau als braun war und etwas kleiner als der achtzig Pfund schwere Schäferhund. „Oh. Na du?“ Sie war fast auf der anderen Straßenseite, als sie in die Hocke ging und wartete, bis der Hund die Lücke zwischen ihnen schloss. „Was ist passiert?“
Ohne jedes Anzeichen von Angst oder Zögern kam der Hund auf sie zu und stupste mit seiner Nase gegen ihre ausgestreckte Hand.
„Na, du bist aber ein freundliches Kerlchen, nicht wahr?“
Sein Schwanz wedelte kurz, als Toni den Hund hinter dem Ohr kraulte und dann mit der anderen Hand seinen Rücken entlang strich. Oder ihren. Kein Halsband. Kein zotteliges Fell. Dünn, aber nicht knochig. Der Hund war entweder schon eine Weile auf sich allein gestellt und wusste, wie er sich selbst versorgen konnte, oder er hatte ein geiziges Herrchen. Als sie ihre Hand sanft über das Bein gleiten ließ, das der Hund zu bevorzugen schien, stieß der friedliche Hund ein kleines Winseln aus.
„Okay, sieht so aus, als müssten wir dir einen Tierarzt suchen. Zufällig weiß ich, wo es einen sehr guten gibt.“
Der Hund, der die ganze Aufmerksamkeit auskostete, bewegte sich und rieb sich an ihr. Sie verstand genau, wie sich der arme Hund fühlte. Einsamkeit war scheiße.
Brooks Farraday streifte seine OP-Handschuhe ab und schleuderte sie quer durch den Raum. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um die achtzigjährige Frau zu stabilisieren, doch Sam hatte zu lange damit gewartet, Liza einzuliefern. Es gab nichts, was Brooks noch tun konnte und die nächste medizinische Einrichtung, die eine Notoperation am Herzen durchführen konnte, war mehr als eine Stunde entfernt. Frustration machte sich in ihm breit, als er den Raum durchquerte, die Handschuhe vom Boden aufhob und sie in den Mülleimer warf. Verdammt, er hasste solche Tage.
Sam jetzt gegenüberzutreten war das Letzte, was er wollte. Erst vergangene Woche war die ganze Gemeinde zu ihrem sechzigsten Hochzeitstag zusammengekommen. Brooks‘ Praxis hier war klein: ein Wartezimmer, eine zu einem Labor umfunktionierte Küche, eine Abstellkammer, die als sein Büro diente, und zwei Untersuchungszimmer. Selbst ein Marsch durch die Flure des Taj Mahal wären nicht lang genug gewesen, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Sam und eine Handvoll seiner und Lizas acht Kinder starrten Brooks an. So sehr er sich auch bemühte, in solchen Situationen Emotion zu vermeiden, war ihm der Verlust dennoch anzusehen. Zwei der Töchter brachen in Tränen aus.
„Es tut mir so leid“, sagte er.
Sam, ein grauhaariger und drahtiger Mann, senkte den Kopf. „Du hast alles getan, was du konntest. Das weiß ich. Liza und ich sind dir dafür sehr dankbar.“ Der alte Mann drehte sich um und ging zur Tür hinaus, bevor Brooks ihm anbieten konnte, sich noch ein letztes Mal zu verabschieden.
„Wir wussten, der Tag würde kommen, Brooks. Moms Herz war schon fast ein Jahrzehnt lang nicht mehr das beste.“ Sam und Lizas ältester Sohn gab Brooks einen Klaps auf den Arm, ließ seinen Blick durch den kleinen Raum schweifen und wandte sich dann ab. „Ich sollte besser zu Dad gehen.“
In einem Strudel von Bewegungen sprachen die übrigen Geschwister ein paar Worte, bevor sie ihrem Vater folgten.
Nora Brown, seine Krankenschwester, tauchte hinter ihm auf. „Ich habe Andy vom Bestattungsinstitut angerufen. Er ist auf dem Weg hierher.“
Brooks senkte den Kopf. Es war seine Aufgabe, Leben retten.
„Außerdem hat Meg angerufen und wollte dich an den Besuch ihrer Freundin erinnern. Sie schlug vor, heute Abend mit ihnen zu essen.“
Er ließ seine Augen zufallen und stieß einen müden Seufzer aus. Ihm war nicht nach Geselligkeit zumute.
„Ich soll dir auch ausrichten, dass Freitagabend auch in Ordnung wäre, wenn dir das besser passt.“
Seine zukünftige Schwägerin schien in der Lage zu sein, seine Gedanken vom anderen Ende der Stadt aus zu lesen, noch bevor er wusste, was er dachte. Gott möge seinem Bruder Adam beistehen. Aus Vorfreude auf die Ankunft ihrer Collegefreundin zur Hochzeit war Meg tagelang, wie ein kleines Mädchen mit einem neuen Springseil, herumgehüpft. Doch gestern hatte sie ihn plötzlich angerufen, weil sie sich wegen ihres seltsamen Verhaltens Sorgen um ihre Freundin machte. Sie hatte Brooks gebeten, zum Abendessen vorbeizukommen, um zu sehen, ob es auch anderen auffiel. Er nickte Nora zu, die geduldig auf seine Antwort wartete. „Danke. Ich werde ihr eine —"
Die Eingangstür flog auf und Paul Brady kam hereingestürmt. „Es ist so weit, Doc. Betty Sue, sie ist im Auto. Sagt, sie bewegt sich nicht. Sie hat mich geschickt, um dich zu holen.“
Brooks machte kehrt und rief über seine Schulter: „Wie lange hat sie schon Wehen?“
„Keine Ahnung. Aber die Schmerzen kommen im Abstand von fünf Minuten.“
Brooks ging schnellen Schritts zu dem Auto, das mit einem Reifen schief auf dem Bordstein stand. Er musste wegen dieses verrückten Parkversuchs fast lachen. Erstlingseltern.
Der werdende Vater kam vor ihm beim Auto an und riss die Beifahrertür auf.
„Hey, Doc“, sagte Betty Sue mit zusammengebissenen Zähnen.
„Wie läuft’s denn so? Meinst du, wir können dich reinbringen?“
Betty Sue hechelte sich durch eine Wehe, nickte und atmete dann lange und tief aus. „Eigentlich möchte ich gerne pressen, aber wenn du mir kurz helfen könntest.“ Sie streckte ihren Arm aus und beugte sich nach vorne. „Mit der Hilfe von unserem Ricky Ricardo hier war ich mir nicht sicher, ob wir es schaffen würden.“
Diesmal musste Brooks über die Anspielung auf Alle lieben Lucy wirklich kichern. Es fiel ihm nicht schwer, sich Paul Brady so zerstreut vorzustellen, wie Ricky Ricardo es war, als sein TV-Sohn geboren wurde. „Wenigstens hat er dich nicht vergessen“, sagte Brooks mit einem trägen Lächeln, während er seinen Arm um Betty Sue legte und sie auf ihre Beine hievte. Erst jetzt bemerkte er den wütenden Blick, den sie ihrem Mann zuwarf. „Echt jetzt?“
„Ja, hat er. Er war schon fast aus der Einfahrt, bevor er wendete, um mich zu holen.“ Betty Sue schaffte es gerade einmal bis zur Türschwelle, bevor sie sich unter einer weiteren Wehe krümmte.
„Atmen“, ermutigte sie Brooks. Nach seiner Einschätzung lagen ihre Wehen nur noch zwei oder drei Minuten auseinander. Wenn sie sich nicht beeilten und sie hineinbrachten, konnte es gut sein, dass er dieses Baby auf dem Bürgersteig zur Welt brachte. „Wie lange hast du schon Wehen?“
Die hochschwangere Frau atmete erneut tief aus. „Ich bin heute Morgen gegen fünf Uhr von ein paar Scheinwehen aufgewacht, aber gegen sieben wurde mir klar, dass es richtige Wehen waren. Nicht allzu nah beieinander. Ich habe mich auf einen langen Tag vorbereitet.“ Sie ging weiter in das Wartezimmer. „Aber vor etwa einer Stunde fingen sie an, sehr schnell zu kommen.“
„Nun, es sieht so aus, als hätte es Paul Junior für dein erstes Baby sehr eilig.“
Andy, vom Bestattungsinstitut, kam durch die offene Tür und blieb abrupt stehen. Er war so klug, zu warten, bis Brooks und seine Patientin am ersten Untersuchungszimmer vorbei waren, bevor er Nora fragend ansah.
„Zimmer eins“, sagte Nora nur.
Im zweiten Untersuchungszimmer setzten Brooks und Paul Betty Sue auf die Behandlungsliege. Dieser Raum war etwas größer als das erste Untersuchungszimmer und diente mit einem schönen Bett und heimeligen Dekorationen auch als Geburtsraum. Hinter ihnen kam Nora herein und stellte Sauerstoff bereit. Nur für den Fall.
„Lass mich mal sehen.“ Wie Brooks erwartet hatte, war Betty Sues Muttermund vollständig geweitet. Baby Paul war bereit für seinen Auftritt. „Ich weiß, dass du pressen willst, aber ich brauche noch ein paar Sekunden.“
Sich durch eine weitere Wehe hechelnd, nickte Betty Sue und streckte die Hand nach ihrem Ehemann aus. Die Geburt verlief routinemäßig und sehr zügig und innerhalb von nur fünfzehn Minuten erblickte Paul Brady Junior das Licht der Welt.
„Bereit, deinen Sohn zu halten?“, fragte Brooks Betty Sue.
Mit einem Lächeln, das strahlender war als das eines Kindes am Weihnachtsmorgen, streckte die frischgebackene Mutter ihre Arme aus. Paul küsste die Stirn seiner Frau und dann den Kopf des winzigen Jungen.
„Wir müssen ihn wiegen und ein paar Standardtests durchführen, aber das kann noch ein paar Minuten warten, damit ihr drei euch kennenlernen könnt.“ Brooks trat zurück, seinen Blick auf das Neugeborene gerichtet. Der Kreislauf des Lebens. „Willkommen in der Welt, junger Mann. Willkommen in der Welt.“
* * *
„Ich gehe mit und erhöhe um fünf.“ Antoinette Castellano-Bennett warf ein paar Chips in den wachsenden Stapel. Als sie sich vorgestellt hatte, wie es sein würde, nach West-Texas zu kommen und ihre Zimmergenossin vom College zu besuchen, war Pokern mit den alten Leuten nicht der Zeitvertreib gewesen, der ihr in den Sinn gekommen war.
„Ich bin raus.“ Dorothy Wilson, eine liebenswürdige und freundliche ältere Dame, legte ihre Karten verdeckt auf den Tisch.
„Ich auch.“ Sally May, eine attraktive Frau mit hochgesteckten, graumelierten Haaren und mit einem Deutschen Schäferhund zu ihren Füßen, legte ihre Karten mit einem Seufzen ab.
„Dann bleibe wohl nur noch ich übrig.“ Eileen Callahan, die Matriarchin der Familie, in die Tonis Freundin einheiratete, grinste so breit wie der texanische Horizont. Mit einer Hand warf sie noch mehr Chips in den Pott, während sie mit der anderen ihre fünf Karten offen vor sich hinlegte. „Drei Asse.“
Das letzte Mitglied der Truppe, Ruth Ann, stieß ein frustriertes Stöhnen aus. Die kleine, sehr dünne Frau mit den zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden langen, grauen Haaren, erinnerte Toni in ihren Jeans und dem blauen Langarmshirt an das, was sie sich unter der Frau eines Ranchers vorgestellt hatte. Nur dass sie nicht über Rinder oder Hühner sprach, sondern jeder zweite Satz etwas mit ihrer kürzlich erfolgten Ballen-OP zu tun hatte. „Damit bin ich raus. Ich habe nur zwei Paare.“
Somit hatte nur noch Toni Karten in der Hand. „Tut mir leid, Ladys. Full House: drei Damen und ein Paar Zehner.“
„Ich werde mal zur Damentoilette spazieren.“ Sally May richtete sich auf. „Vielleicht bringt mir das Glück.“
Eileen sammelte die Karten vom Tisch ein. „Also, erzähl uns doch mehr über deinen viel-reisenden Ehemann.“
Während Toni ihre gewonnenen Chips in farblich passende Stapel aufteilte, überlegte sie, was sie sagen sollte. Der Anruf, der ihren Mann dazu veranlasst hatte, seine Koffer zu packen und zum Logan Airport zu eilen, um einen Flug in eines dieser Irgendwas-stan Länder anzutreten, war ein unerwartetes Geschenk gewesen. William arbeitete eigentlich nicht mehr auf Baustellen im Ausland, aber als der Projektbeauftragte Ingenieur auf dem Weg zum Flughafen einen schweren Herzinfarkt erlitt, suchten die Partner händeringend nach einem Ersatzprojektleiter, und William war der Einzige, der flexibel und qualifiziert genug war, um das zu erledigen.
Die Erinnerung an die grauenvolle zwanzigminütige Hektik ließ sie ihre Chips noch fester umklammern.
„Verdammt noch mal, Antoinette. Da ist zu viel Stärke in meinen Hemden. Schon wieder.“
„Es tut mir leid.“ Sie hasste es, Hemden zu bügeln. „Vielleicht ist dieses hier—“
William riss ihr das Hemd aus der Hand und stopfte es in seinen Koffer. „Ich will das Hemd nicht im Flugzeug tragen.“
Toni wich aus seiner Reichweite zurück. Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal machen.
„Wenn dieser dumme Heini in der Reinigung die Stärke richtig hinbekommt, gibt es keinen Grund, warum du das nicht auch hinbekommen solltest. Man muss kein Rhodes-Stipendiat sein, um ein Hemd zu bügeln.“
„Toni?“ Eileens Hände hatten mitten unterm Mischen aufgehört und ihre Augenbrauen waren besorgt zusammengekniffen.
„Sorry, ich war mit den Gedanken woanders. Ja. William reist nicht mehr viel. Er passt gut auf mich auf. Mag es überhaupt nicht, von mir getrennt zu sein, aber dieses Mal hatte er keine Wahl.“
„Nun, es war ein großer Zufall, dass seine längere Reise mit meiner Hochzeit zusammenfällt, auch wenn ich meine besten Überredungskünste einsetzen musste, um dich dazu zu bringen, mich jetzt schon zu besuchen und nicht erst am Hochzeitswochenende.“ Meg O'Brien – zukünftige Farraday – stellte sich mit einer Kaffeekanne in der Hand neben Toni. „Klingt, als wäre er ein sehr liebevoller Ehemann geworden.“
„Ja, liebevoll.“ Toni zwang sich zu dem Ich bin so glücklich verheiratet-Plastiklächeln, das sie in der Öffentlichkeit immer aufsetzte. Unter dem Tisch die Hände zu Fäusten ballend, verdrängte sie die letzten Worte ihres Mannes auf dem Weg zur Tür.
„Ich weiß nicht, wie zuverlässig die Satelliten in diesem gottverlassenen provisorischen Ingenieurslager sind. Vergiss um Gottes willen nicht, dein Handy aufzuladen. Oder noch besser, bleib in der Nähe des Hauses. Wer weiß, was ich in dieser armseligen Gegend noch alles brauchen werde ...“
Sie wusste, was in der Nähe des Hauses bedeutete. Nicht, als wäre es hart, das einzuhalten. Wo konnte sie schon hin?
„Meine Mutter wird in ein paar Wochen von ihrer Kreuzfahrt heimkehren. Wenn sie zurückkommt, werde ich dafür sorgen, dass du bei ihr wohnst, solange ich weg bin.“ Sein Blick huschte durch die makellose Wohnung. „Wenn ich es irgendwie einrichten kann, bin ich früher als in drei Monaten wieder da. Dieses Drecksloch ist kein Ort für einen Mann wie mich.“
Sie nickte. Sie war sich nicht sicher, was er als nächstes von ihr erwartete. Würde er jetzt wollen, dass sie ihm den Rest seiner Sachen reichte, damit das Packen schneller ging, oder war das der Zeitpunkt, an dem nichts, was sie tat, richtig war? Der Wutausbruch über das Hemd hatte sie glauben lassen, dass es besser wäre, auf Anweisungen zu warten. Vielleicht.
„Meg hat Recht.“ Eileen verteilte die Karten „Es ist immer schön, Freunde zu Besuch zu haben. Und sie hat mir erzählt, dass du auch eine gute Köchin bist? Sie muss ein bisschen gemästet werden. Da sie jeden Morgen hier arbeitet und den Rest der Zeit dieses alte Haus renoviert, ist sie bald nur noch Haut und Knochen. Da fällt mir ein.“ Während sie ihre Karten sortierte, schaute Eileen über ihre Schulter zu Meg. „Ich bin fast fertig mit den Gardinen für die alte Stube. Das sind die letzten Vorhänge.“
„Klingt, als wäre es Zeit für eine Dekorationsparty.“ Sally May hob ihre Karten auf.
Eileen nickte. „Es hat Spaß gemacht, das alte Haus wieder zum Leben zu erwecken.“
Nach dem, was Meg Toni erzählt hatte, verbrachte der Farraday-Clan mehr Zeit damit, das alte viktorianische Haus herzurichten, als sie in ihre eigenen Häuser investiert hatten. Meg schien jede Minute davon zu genießen, plötzlich Teil einer großen, eng zusammengeschweißten Familie zu sein. Toni konnte sich das nicht vorstellen. Wann immer die Familie ihres Mannes in Boston aufkreuzte, war Hilfsbereitschaft nicht das erste Wort, das ihr in den Sinn kam.
„Klingt gut.“ Ein Kunde vom anderen Ende des Cafés winkte Meg herüber und sie verschwand in seine Richtung.
Als Toni William heiratete und sich im belebten Herzen von Bostons Back Bay niederließ, dachte sie, sie hätte im Lotto gewonnen. Doch jetzt, wo sie sah, wie Meg lächelte und von Tisch zu Tisch flatterte und von innen heraus strahlte, fragte sich Toni, ob sie jemals so glücklich gewesen war. Ohne ihre Karten richtig zu betrachten, warf Toni sie auf den Tisch. „Ich glaube, ich setze dieses Mal aus. Ich könnte ein wenig frische Luft gebrauchen.“
„Oh, gut.“ Ruth Ann sprang lachend auf. „Ich setze mich auf den heißen Platz, solange sie weg ist.“
Meg eilte zurück zum Tisch. „Willst du schon gehen? Ich habe nur noch etwa eine halbe Stunde, bis Shannon kommt.“
„Ich wollte mir eigentlich nur die Beine vertreten, aber vielleicht wäre ein schöner Spaziergang nach Hause besser.“
Meg musterte sie ein wenig länger, als ihr lieb gewesen wäre. „Gute Idee. Die Hintertür ist nicht verschlossen. Ich komme so schnell wie möglich nach.“
„Keine Eile.“
„Findest du den Weg?“
Toni musste fast lachen. Die Stadt war nicht besonders groß, und das, was es gab, war in einem einfachen Raster gebaut worden. Sie würde keine fünfzehn Minuten brauchen, um die Hauptstraße hinunterzulaufen und dann in Megs Block einzubiegen. „Ich komme schon zurecht.“
„Sehen wir dich am Samstag zum Kartenspielen?“ Dorothy Wilson blickte auf. „Nora ist samstags dabei.“
„Ich weiß nicht. Kommt darauf an, wieviel Arbeit noch bei Meg erledigt werden muss“, sagte Toni.
„Arbeit, von wegen!“ Meg zwinkerte ihrer Freundin zu. „Am Samstag fahren wir nach Abilene. Ich muss noch ein paar Einkäufe machen.“
„Ich bin dabei.“ Toni lächelte ihre Freundin an und bemerkte, dass sie zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wirklich aus tiefstem Herzen lächelte.
Obwohl sie die Läden auf der Main Street schon beim Fahren durch die Stadt gesehen hatte, nahm sie sich jetzt die Zeit, die Leute zu beobachten, die kamen und gingen, und die Schaufenster etwas länger zu betrachten. Das Innere des Cut and Curl sah so aus, als hätte es sich seit dem Tag, an dem es gebaut worden war, nicht viel verändert. An der Rückwand waren mehrere der altmodischen riesigen Haartrockner aneinandergereiht. Sogar jetzt saßen dort zwei Frauen Seite an Seite und blätterten in Zeitschriften.
Wenn Toni sich West-Texas vorstellte, hatte sie eine Vision von Clint Eastwood, der Kühe durch eine Stadt mit hölzernen Bürgersteigen jagte. An Andy Griffiths Mayberry hatte sie nicht gedacht.
Als sie gerade um die Ecke in Megs Straße biegen wollte, erregte ein dumpfes Wuff ihre Aufmerksamkeit. Da sie noch zu weit von den Wohnhäusern entfernt war, um in der Nähe eines Gartens mit einem Hund zu sein, hielt sie inne und sah sich um. Nichts. Nach ein paar weiteren Schritten hörte sie es wieder, nur dass das Geräusch dieses Mal mehr wie ein Winseln klang. Woher kam es?
Toni nahm sich Zeit, die Gegend abzusuchen, und ging langsam und vorwärts, wobei sie aufmerksam lauschte. Da war es wieder, ein wenig lauter, und es kam von der anderen Straßenseite. Sie verließ den Bordstein und forderte das Tier geradezu auf, sich zu zeigen. Eine Bewegung im Gebüsch neben einem mit Brettern verkleideten Haus verriet ihr, dass sie in die richtige Richtung ging, als eine schwarze Schnauze auftauchte, gefolgt von einem felligen Körper und schließlich einem hängenden Schwanz. Das Tier kam auf sie zu ... Und es hinkte.
Für einen kurzen Moment hatte sie gedacht, es könnte Sally Mays Schäferhund sein, aber dann stellte sie fest, dass dieser Hund eher grau als braun war und etwas kleiner als der achtzig Pfund schwere Schäferhund. „Oh. Na du?“ Sie war fast auf der anderen Straßenseite, als sie in die Hocke ging und wartete, bis der Hund die Lücke zwischen ihnen schloss. „Was ist passiert?“
Ohne jedes Anzeichen von Angst oder Zögern kam der Hund auf sie zu und stupste mit seiner Nase gegen ihre ausgestreckte Hand.
„Na, du bist aber ein freundliches Kerlchen, nicht wahr?“
Sein Schwanz wedelte kurz, als Toni den Hund hinter dem Ohr kraulte und dann mit der anderen Hand seinen Rücken entlang strich. Oder ihren. Kein Halsband. Kein zotteliges Fell. Dünn, aber nicht knochig. Der Hund war entweder schon eine Weile auf sich allein gestellt und wusste, wie er sich selbst versorgen konnte, oder er hatte ein geiziges Herrchen. Als sie ihre Hand sanft über das Bein gleiten ließ, das der Hund zu bevorzugen schien, stieß der friedliche Hund ein kleines Winseln aus.
„Okay, sieht so aus, als müssten wir dir einen Tierarzt suchen. Zufällig weiß ich, wo es einen sehr guten gibt.“
Der Hund, der die ganze Aufmerksamkeit auskostete, bewegte sich und rieb sich an ihr. Sie verstand genau, wie sich der arme Hund fühlte. Einsamkeit war scheiße.