Connors Herzenswunsch
Kapitel Eins
„Du meine Güte, Ralph!“ Eileen Callahan machte einen Schritt zurück, während sie sich noch am Türgriff des oberen Schlafzimmers festhielt. „Wann warst du in diesem Zimmer?“
Ralph Brennan, der Nachbar der Farrady-Ranch, der schon hier lebte, bevor Eileen zur Familie ihrer verstorbenen Schwester gezogen war, stellte sich neben sie. „Eine Weile, schätze ich.“
„Eine Weile?“ Sie blickte ihn an. Seit Marjorie Brennen vor einigen Jahren verstorben war, war sie nicht mehr im Obergeschoss des gepflegten Hauses gewesen. Alles sah genauso aus wie früher, selbst Marjories Nähzimmer inklusive des Stapels rosafarbenen Stoffs, aus dem sie Grace‘ Geburtstagskleid für ihren dritten Geburtstag genäht hatte. Eileen atmete tief durch und begutachtete die weiteren Räume im Obergeschoss. Es war sauber und aufgeräumt, Marjorie wäre stolz auf ihren Mann gewesen. Die Zeit schien im Haus der Brennans still gestanden zu sein.
„Ich denke, es ist an der Zeit.“
Eileen zog die Augenbrauen hoch, doch aus Respekt gegenüber dem beinahe neunzigjährigen Mann unterdrückte sie das du denkst?, das ihr auf der Zunge lag.
„Ich sagte Catherine, dass ich bald bei ihr bin. Aber zuerst muss ich dieses alte Haus auf Vordermann bringen. Ich möchte nicht, dass Fremde Marjories Sachen durchwühlen.
Eileen musste kurz überlegen, wer Catherine war – seine Enkeltochter. Eileen hatte sie nie getroffen, doch als Ralphs Frau nach einem langen Kampf gegen den Krebs verstarb, war das Mädchen oft Gesprächsthema am Esstisch der Farraday-Ranch. „Du wirst deine Enkelin besuchen?“
Der alte Mann lächelte. „Ja. Sie ist eine erfolgreiche Anwältin oben in Chicago. Schwer, sie nach Tuckers Bluff zu bekommen, aber ich habe ihr gesagt, ich komme sie besuchen, sobald ich die Dinge hier geregelt habe.“
Eileen blickte den Flur entlang. Wenn er seine Enkelin noch in diesem Jahrtausend besuchen wollte, musste Eileen etwas Unterstützung zusammentrommeln. „Ich werde Hilfe brauchen.“
Ralph Brennan blinzelte. „Welche Art Hilfe?“
„Mehr Hände. Oder du wirst Catherine noch ziemlich lange nicht zu Gesicht bekommen.“
„Hab‘ sie schon getroffen.“ Der alte Mann grinste sie an.
„Wann hast du die Stadt verlassen?“ Vielleicht war die alte Ziege nicht so blitzgescheit wie alle dachten.
„Ich habe die Ranch nicht verlassen. Ich habe sie auf dem neumodischen Apparat gesehen, den sie mir geschickt hat.“
Neumodischer Apparat?
Ralph ging die Treppe hinunter. Eileen fand, sie hatte hier oben genug gesehen und folgte ihm. Unten angekommen ging er nach rechts in sein Büro. Dort befanden sich wahrscheinlich Aufzeichnungen der letzten fünfzig Jahre über das Geschäft der Brennans – handschriftlich verfasst. „Dieses Ding hier.“
Eileen schmunzelte, froh darüber, dass der alte Mann nicht den Verstand verlor. „Ein Tablet.“
Ralph zuckte die Achseln und schenkte ihr ein zahnloses Lächeln. „Sie ist bildhübsch. Sieht genauso aus wie ihre Mama, wenn sie lächelt.“ Er wischte über den Bildschirm und ein Foto seiner nun erwachsenen Enkelin erschien.
„Sie ist wunderschön. Ich hoffe, sie kommt irgendwann hierher.“
„Ich weiß nicht. Darauf habe ich fast ein Jahr lang gewartet und schließlich aufgegeben. Danach haben wir vereinbart, dass meine alten Knochen in den Norden aufbrechen werden. So ist es für Stacey besser.“
„Das kleine Mädchen?“
„Ihr kleines Mädchen. Zuckersüß.“ Kurz legte sich seine Stirn in Falten.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Eileen vorsichtig. Ralph war kein Mann vieler Worte, daher wusste sie, ihre einzige Chance herauszufinden, was seine Laune trübte, war zu hoffen, dass sie ihm mit der Frage nicht auf die Füße trat.
„Ich weiß nicht. Die Kleine lächelt nie und spricht nicht. Catherine sagt, sie ist Fremden gegenüber nur schüchtern.“
„Viele Kinder sind so.“
„Vielleicht.“ Er schnaubte und rieb die Hände aneinander. „Ich war nicht besonders begeistert darüber, hier wegzugehen. Doch jetzt, wo es entschieden ist, freue ich mich darauf. Wann können wir loslegen?“
„Ich denke, als erstes sollten wir mit Marjories Nähzimmer beginnen. Für das ganze Material gibt es sicher viele Interessenten in der Stadt. Vielleicht fangen wir wieder mit dem Quilt-Nähen an.“
„Marjorie liebte es, diese Babydecken zu nähen. Nichts machte sie glücklicher, als unter Kindern zu sein. Ich habe immer gesagt, es war schade, dass sie nicht mehr Kinder bekommen hatte. Doch vermutlich war Gott der Meinung, eines wäre genug.“
Eileen lächelte ihn an. „Glaub mir, es gab Zeiten, da wären wir froh gewesen, wenn ihr euch einen unserer Jungs ausgeliehen hättet. Oder zwei.“
„Du hast die Jungs gut erzogen. Es freut mich zu wissen, dass hier eines Tages wieder Farraday-Kinder aufwachsen.“
„Wieder?“
„Mein Urgroßvater hatte dieses Stück Land vom ersten Farraday gekauft. Seine Frau wollte nicht so weit draußen wohnen. Sie kam aus dem Norden, der Gegend um Bosten. Wie auch immer. Es war schwer für sie, sich ans Leben auf einer Ranch zu gewöhnen. Die Einsamkeit war das Schlimmste für sie. Der alte Farraday hatte Angst, dass sie den Verstand verlieren könnte und verkaufte das Land an meine Vorfahren, mit der Bedingung, dass das Haus nahe der Grundstücksgrenze erbaut werden musste. So konnten sich die Frauen gegenseitig besuchen. Das klappte gut, da beide Frauen aus der Stadt kamen.“
„Diese Geschichte kannte ich gar nicht.“ Eileen fragte sich, was der alte Kautz noch so wusste und für sich behielt. „Mehr gibt es darüber nicht zu erzählen. Seither waren die Farradays und die Brennans Nachbarn.“
„Keine geheimen Fehden?“, neckte Eileen.
„Ne.“ Ralph verlagerte sein Gewicht. „Nicht einmal Gezanke. Aber meine Schwester Edna wäre beinahe mit Seans Onkel George durchgebrannt. Das war jahrelang das Gesprächsthema der Klatschweiber der Stadt. Edna war erst vierzehn und sie und George waren bis nach Butler Springs gekommen.“
„Wirklich?“ Eileen musste Sean fragen, ob er die Geschichte kannte. Ansonsten wusste sie, was das Gesprächsthema der nächsten Farraday-Familienfeier sein würde.
„Törichte Kinder. Zwei Jahre später heiratete Edna einen der Turner Jungs und zog nach Butler Springs. Und dein Onkel George lernte seine Martha kennen und zog zu ihr an den Waldrand. Und dafür die ganze Aufregung damals.“
„Nun, klingt jedenfalls aufregend. Also,“ Eileen klatschte in die Hände, „warum suchst du dir nicht eine Beschäftigung und ich fange oben an.“
„Wenn es dich nicht stört, es ist Zeit für mein Mittagsschläfchen. Ich werde mich etwas hinsetzten und fernsehen. Maria hat einen Krug Limonade in den Kühlschrank gestellt.“
„Setz dich und ich hole uns zwei Gläser.“
Ralph lächelte. „Du bist eine gute Seele, Eileen. Du hast dich deiner Schwester gegenüber anständig verhalten. Und jetzt verhältst du dich meiner Marjorie gegenüber anständig.
„Dafür sind Nachbarn doch da, Ralph.“ Es kam nicht oft vor, dass der frühe Tod ihrer Schwester sie noch so traf. In diesem Haus, wo die Zeit scheinbar stehengeblieben war, schien der Verlust jedoch frischer als eh und je. Eileen ging in die veraltete Küche. Während die Küche der Farradays kurz nach ihrer renoviert worden war, sah die Küche der Brennans aus, als wäre sie aus einer Siebziger Jahre Sitcom. Herbstgold war die dominierende Farbe. Das einzige moderne war die Mikrowelle aus Edelstahl, die in der Ecke stand. Selbst der Kühlschrank war noch das Modell von einst. Eileen konnte nicht glauben, dass das Teil noch funktionierte. Andererseits sollte es sie nicht überraschen. Der Kühlschrank stammte aus einer Zeit, in der Geräte noch gebaut wurden, um ein Leben lang zu halten. Oder in diesem speziellen Fall – mehrere Leben lang. Mit zwei kühlen Getränken in den Händen kehrte Eileen in das große Wohnzimmer zurück. „Bitte sehr, Ralph.“
Seine Augen waren geschlossen und auf seinen Lippen lag einem Lächeln und sie sah keinen Grund, seinen friedlichen Schlaf zu stören. Sie stellte das Glas auf den Tisch neben ihm und ein seltsames Gefühl kroch ihr den Rücken hinauf. Ihr Herz pochte und sie betrachtete sein friedliches Lächeln genauer. „Ralph“, flüsterte sie, während sie langsam nach seinem Arm griff. Eileen drückte zwei Finger auf die Innenseite seines Handgelenks.
Sie schloss die Augen und legte dieselben Finger an seinen Hals. „Oh, Ralph.“
Kapitel Zwei
Das Wissen, dass das Brennan-Anwesen bald ihm gehören würde, war das Einzige, was Connor Farraday davon abhielt, diesen neuen Deckhelfer über Bord zu werfen. Hand aufs Herz, dieser Mann schaffte es nicht, ihm aus dem Weg zu gehen. Es war harte Arbeit, ein Rohr auf einer Bohrinsel zu transportieren. An einem windigen Tag war es die Hölle und dieser Junge kapierte das nicht. Er müsste eine paar Tage in einem Bohr Camp auf dem Festland verbringen, wo er Gräben ausheben musste, bis er lernte, das zu tun, was man ihm sagte, wenn man es ihm sagte.
Unter diesen Bedingungen würde Connor es keinen weiteren Tag länger durchstehen, geschweige denn, die ganze kommende Woche bis zum Ende seines Turnus. Fünfzehn Tage Arbeit, sieben Tage frei. Er ging schon einige Zeit lang an sein Limit und nahm nicht die empfohlenen zwei Wochen frei, um sich zusätzliches Geld anzusparen. Er hatte langsam genug von diesem Kindergarten. Während seines Militärdienstes für Uncle Sam war ihm ziemlich schnell klar geworden, dass er nicht sein Leben lang Befehle ausführen wollte. Nicht für das Geld, das er beim Marine Corps verdiente. Auf einer Ölplattform zu arbeiten, egal ob an Land oder auf See, war Schwerstarbeit, bei der man verdammt gut verdiente. Er mochte die Aufregung, das rege Treiben, die ständigen Herausforderungen. Viele Männer machten diese Arbeit nur ein oder zwei Jahre, steckten das Geld ein und gingen wieder. Er aber hatte größere Pläne und nun war es an der Zeit, dass die harte Arbeit sich auszahlte.
„Leg dich richtig rein“, rief einer der Arbeiter dem Jungen zu.
Als er ihm ins Gesicht blickte, sah Connor die Sonnenbrille. „Wo zur Hölle ist deine Schutzbrille?“
„In meinem Zimmer.“
Ein super Ort, um Schutzausrüstung aufzubewahren. Einen kurzen Augenblick lang dachte Connor darüber nach, ihn zu fragen, ob er seine Kondome auch die ganze Nacht über in der Verpackung aufbewahrte. Nichts von beidem würde ihm etwas nützen. „Wofür brauchst du mitten in der Nacht eine Sonnenbrille?“
„Die ist von Versace.“
Wie konnte einer wie er nur an den Schlipsträgern vorbeikommen und unter Connors Zuständigkeit fallen? Der Junge würde sich vermutlich noch selbst umbringen, falls er zuvor nicht weinend nach Hause zu Mama lief, weil ihm ein Schraubenzieher auf den Fuß gefallen war. Oder noch schlimmer, jemand anderen umbringen, falls er nicht endlich anfing, einfach das zu tun, was man ihm sagte. „Hol deine verdammte Schutzbrille. Und wenn ich dich nochmal mit dieser Sonnenbrille hier sehe, wird es das letzte Mal gewesen sein, dass du sie gesehen hast. Verstanden?“
Der Junge hätte einfach nicken können, doch sein Blick sagte Connor klar und deutlich, dass er nicht kapierte. Wenn für ihn nicht bereits Licht am Ende des Tunnels zu sehen wäre, würde diese Schicht Connor vermutlich dazu bringen, wieder für Uncle Sam zu arbeiten. Idioten wie dieser Neuling waren das extra Geld nicht wert.
Nach der Hälfte seiner Zwölf-Stunden-Schicht war der Sonnenaufgang an diesem speziellen Morgen besonders schön. Fast wie eine Entschuldigung Gottes dafür, dass Connor sich mit diesem dummen Jungen herumschlagen musste. Die ruhige Kulisse für einen der gefährlichsten Jobs auf diesem Planeten.
Unter Deck in der Küche kippte Connor einen weiteren Energydrink hinunter, stellte sich in der Schlange an und belud seinen Teller. Sie hatten bei ihrer Arbeit eine Menge Kalorien verbraucht und es war an der Zeit, die Reserven aufzufüllen.
Als er zur selben Zeit Steak und Kartoffeln verputzte, wie seine Familie zu Hause Eier mit Speck zum Frühstück servierte, war es nicht verwunderlich, dass auf seinem Telefon ein Anruf seines Vaters einging. „Hey, Dad. Was bringt dich dazu, so früh am Tag anzurufen?“
„Ich dachte, es interessiert dich, dass Ralph Brennan gestern gestorben ist.“
Connors Gabel machte mitten auf dem Weg zu seinem Mund halt. „Was ist passiert?“
„Altersschwäche. Er setzte sich, schloss die Augen und schlief ein. Deine Tante Eileen war bei ihm.“
„Geht es ihr gut?“
„Ja, er ging ganz friedlich. Sie hätte nichts für ihn tun können.“
„Wow. Ich weiß ja, dass er alt war, aber das habe ich nicht kommen sehen.“
„Noch etwas, das du wissen solltest.“
Wenn die Stimme seines Vaters tiefer wurde, bedeutete das selten gute Neuigkeiten. „Was?“
„Seine Enkelin kommt hierher.“
„Enkelin? Dieses Gör?“
„Das kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls hat sie am Telefon mit Andy einiges arrangiert. Sie braucht noch etwas Zeit. Die Beerdigung wird also erst stattfinden, wenn sie da ist. In einer Woche etwa.“
„Ein langer Weg, um sich von jemanden zu verabschieden, für den man wie lange keine Zeit gehabt hat. Zwanzig, fünfundzwanzig Jahre?“
„Das ist die eine Sache. Sie kommt auch her, um zu entscheiden, was mit der Ranch passieren soll.“
Was noch auf seinem Teller lag, sah nicht mehr besonders appetitlich aus. „Was gibt es da zu entscheiden? Ich werde sie kaufen.“
„Nun ja.“ Sein Vater zögerte länger, als Connor lieb war. „Ich weiß das und du weißt das. Und vermutlich wusste das auch Ralph. Aber wie es scheint, weiß seine Enkeltochter das nicht.“
Connor schob seinen halb leer gegessenen Teller weg. „Nun, das werden wir noch sehen.“
* * *
„Warum warten die Leute immer, bis es zu spät ist?“, murmelte Catherine Hammond an ihre Assistentin Susan gerichtet.
„Soll ich darauf antworten?“ Susan sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Sie richtete ihren Blick wieder auf das Foto ihres Großvaters und schüttelte den Kopf „Ich hätte fahren sollen, als er das erste Mal gefragt hat.“
„Du warst mitten im Buchanan Prozess. Du hättest nicht fahren können, ohne deinen Vater zu verärgern. Und offen gestanden, Connie hätte den Vorsitz nicht gepackt. Sie war nicht bereit.“
Das waren die Gründe, die auch Catherine sich einredete. Es wäre Connie, der Firma und ihrem Vater gegenüber nicht fair gewesen. Er hatte die letzten Jahre viel riskiert, ihr die wichtigen Fälle zu übergeben. „Trotzdem ...“
„Du hättest nichts tun können.“ Susan stellte einen Stapel Unterlagen auf dem Schreibtisch ab und nahm einen anderen, der archiviert werden sollte.
„Ich hätte danach gehen können. Ich hätte Medcalfs Berufung ablehnen können.“
„Nicht, wenn du Partner werden willst. Du weißt genauso gut wie ich, die Familienkarte auszuspielen geht nicht, wenn man bei den großen Jungs mitspielen möchte.“
Wenn irgendjemand das wusste, dann Catherine. Sie hatte ihr Leben lang den Erwartungen ihres Vaters gerecht werden müssen. Hart arbeiten. Ihren Lohn ernten. Da blieb keine Zeit für Familie und Freunde. Und sie hatte sehr hart gearbeitet, Tag und Nacht. Sie hatte die High School als Jahrgangsbeste abgeschlossen, das College mit summa cum laude, war für ihr Jurastudium an die University of Chicago gegangen und hatte schließlich den Sohn des Geschäftspartners ihres Vaters geheiratet – alles, was von ihr erwartet worden war.
Nicht, dass sie für die Hochzeit mit David so viel hatte tun müssen, wie für den Rest ihrer Leistungen. Von ihr war erwartet worden, dass sie aufs College gehen und danach Jura studieren würde, um dann in Daddys Firma einzusteigen. David und sie waren in dem Wissen aufgewachsen, dass sie eines Tages heiraten und eine Familie gründen würden. Sie waren ein Team gewesen, solange sie zurückdenken konnte. Ein gutes Team. Natürlich äußerte sich ihr Vater nie darüber, wie sie beides meistern sollte, Partnerin in der Firma und Mutter zu sein.
„Du weißt, dass du alles erledigen kannst, ohne nach Texas zu fahren?“
Susan hielt Catherine Tag und Nacht den Rücken frei. Natürlich schob Catherine es auf die Tatsache, dass sie vermutlich ihre erste Vorgesetzte war, der Susans Sanduhrfigur egal war. Susan war mit Sicherheit wegen ihres Aussehens eingestellt worden. Mit über vierzig war sie noch immer eine Wucht. Doch Catherine schätzte vor allem ihren scharfen Verstand. Jede Minute, jeden Tag. „Ich muss. Das schulde ich ihm.“
„Wenigstens kann Richter Albanese dich gut leiden. Es wird bestimmt nicht schwierig sein, einen Aufschub zu bekommen.“
„Kein Aufschub.“ Catherine schüttelte den Kopf und blickte auf ihren Bildschirm. Das Lächeln ihres Großvaters verfolgte sie.
„Oh, sehr gut. Du bist wieder zur Vernunft gekommen.“
Die Erleichterung in Susans Lächeln machte es für Catherine nicht leichter, ihren Satz zu beenden. Sie wollte ihre Assistentin genauso wenig enttäuschen, wie ihren Vater. „Wir werden den Fall neu bewerten. Es wird den Rest der Woche dauern ...“ Sie blickte einen Moment lang aus dem Fenster und ließ sich die Namen der Juniorpartner durch den Kopf gehen. Dann grinste sie. „… Connie auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Wenn sie so gut ist, wie ich denke, ist sie bereit für ihren ersten Vorsitz. Dieser Fall wird ihre Karriere voranbringen.“
„Und deine beenden.“ Susan klammerte sich an einer Aktenmappe fest. „Hast du den Verstand verloren?“
„Nein.“ Catherine schob ihren Stuhl vom Schreibtisch weg. „Vielleicht habe ich ihn soeben gefunden.“
„Du meine Güte, Ralph!“ Eileen Callahan machte einen Schritt zurück, während sie sich noch am Türgriff des oberen Schlafzimmers festhielt. „Wann warst du in diesem Zimmer?“
Ralph Brennan, der Nachbar der Farrady-Ranch, der schon hier lebte, bevor Eileen zur Familie ihrer verstorbenen Schwester gezogen war, stellte sich neben sie. „Eine Weile, schätze ich.“
„Eine Weile?“ Sie blickte ihn an. Seit Marjorie Brennen vor einigen Jahren verstorben war, war sie nicht mehr im Obergeschoss des gepflegten Hauses gewesen. Alles sah genauso aus wie früher, selbst Marjories Nähzimmer inklusive des Stapels rosafarbenen Stoffs, aus dem sie Grace‘ Geburtstagskleid für ihren dritten Geburtstag genäht hatte. Eileen atmete tief durch und begutachtete die weiteren Räume im Obergeschoss. Es war sauber und aufgeräumt, Marjorie wäre stolz auf ihren Mann gewesen. Die Zeit schien im Haus der Brennans still gestanden zu sein.
„Ich denke, es ist an der Zeit.“
Eileen zog die Augenbrauen hoch, doch aus Respekt gegenüber dem beinahe neunzigjährigen Mann unterdrückte sie das du denkst?, das ihr auf der Zunge lag.
„Ich sagte Catherine, dass ich bald bei ihr bin. Aber zuerst muss ich dieses alte Haus auf Vordermann bringen. Ich möchte nicht, dass Fremde Marjories Sachen durchwühlen.
Eileen musste kurz überlegen, wer Catherine war – seine Enkeltochter. Eileen hatte sie nie getroffen, doch als Ralphs Frau nach einem langen Kampf gegen den Krebs verstarb, war das Mädchen oft Gesprächsthema am Esstisch der Farraday-Ranch. „Du wirst deine Enkelin besuchen?“
Der alte Mann lächelte. „Ja. Sie ist eine erfolgreiche Anwältin oben in Chicago. Schwer, sie nach Tuckers Bluff zu bekommen, aber ich habe ihr gesagt, ich komme sie besuchen, sobald ich die Dinge hier geregelt habe.“
Eileen blickte den Flur entlang. Wenn er seine Enkelin noch in diesem Jahrtausend besuchen wollte, musste Eileen etwas Unterstützung zusammentrommeln. „Ich werde Hilfe brauchen.“
Ralph Brennan blinzelte. „Welche Art Hilfe?“
„Mehr Hände. Oder du wirst Catherine noch ziemlich lange nicht zu Gesicht bekommen.“
„Hab‘ sie schon getroffen.“ Der alte Mann grinste sie an.
„Wann hast du die Stadt verlassen?“ Vielleicht war die alte Ziege nicht so blitzgescheit wie alle dachten.
„Ich habe die Ranch nicht verlassen. Ich habe sie auf dem neumodischen Apparat gesehen, den sie mir geschickt hat.“
Neumodischer Apparat?
Ralph ging die Treppe hinunter. Eileen fand, sie hatte hier oben genug gesehen und folgte ihm. Unten angekommen ging er nach rechts in sein Büro. Dort befanden sich wahrscheinlich Aufzeichnungen der letzten fünfzig Jahre über das Geschäft der Brennans – handschriftlich verfasst. „Dieses Ding hier.“
Eileen schmunzelte, froh darüber, dass der alte Mann nicht den Verstand verlor. „Ein Tablet.“
Ralph zuckte die Achseln und schenkte ihr ein zahnloses Lächeln. „Sie ist bildhübsch. Sieht genauso aus wie ihre Mama, wenn sie lächelt.“ Er wischte über den Bildschirm und ein Foto seiner nun erwachsenen Enkelin erschien.
„Sie ist wunderschön. Ich hoffe, sie kommt irgendwann hierher.“
„Ich weiß nicht. Darauf habe ich fast ein Jahr lang gewartet und schließlich aufgegeben. Danach haben wir vereinbart, dass meine alten Knochen in den Norden aufbrechen werden. So ist es für Stacey besser.“
„Das kleine Mädchen?“
„Ihr kleines Mädchen. Zuckersüß.“ Kurz legte sich seine Stirn in Falten.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Eileen vorsichtig. Ralph war kein Mann vieler Worte, daher wusste sie, ihre einzige Chance herauszufinden, was seine Laune trübte, war zu hoffen, dass sie ihm mit der Frage nicht auf die Füße trat.
„Ich weiß nicht. Die Kleine lächelt nie und spricht nicht. Catherine sagt, sie ist Fremden gegenüber nur schüchtern.“
„Viele Kinder sind so.“
„Vielleicht.“ Er schnaubte und rieb die Hände aneinander. „Ich war nicht besonders begeistert darüber, hier wegzugehen. Doch jetzt, wo es entschieden ist, freue ich mich darauf. Wann können wir loslegen?“
„Ich denke, als erstes sollten wir mit Marjories Nähzimmer beginnen. Für das ganze Material gibt es sicher viele Interessenten in der Stadt. Vielleicht fangen wir wieder mit dem Quilt-Nähen an.“
„Marjorie liebte es, diese Babydecken zu nähen. Nichts machte sie glücklicher, als unter Kindern zu sein. Ich habe immer gesagt, es war schade, dass sie nicht mehr Kinder bekommen hatte. Doch vermutlich war Gott der Meinung, eines wäre genug.“
Eileen lächelte ihn an. „Glaub mir, es gab Zeiten, da wären wir froh gewesen, wenn ihr euch einen unserer Jungs ausgeliehen hättet. Oder zwei.“
„Du hast die Jungs gut erzogen. Es freut mich zu wissen, dass hier eines Tages wieder Farraday-Kinder aufwachsen.“
„Wieder?“
„Mein Urgroßvater hatte dieses Stück Land vom ersten Farraday gekauft. Seine Frau wollte nicht so weit draußen wohnen. Sie kam aus dem Norden, der Gegend um Bosten. Wie auch immer. Es war schwer für sie, sich ans Leben auf einer Ranch zu gewöhnen. Die Einsamkeit war das Schlimmste für sie. Der alte Farraday hatte Angst, dass sie den Verstand verlieren könnte und verkaufte das Land an meine Vorfahren, mit der Bedingung, dass das Haus nahe der Grundstücksgrenze erbaut werden musste. So konnten sich die Frauen gegenseitig besuchen. Das klappte gut, da beide Frauen aus der Stadt kamen.“
„Diese Geschichte kannte ich gar nicht.“ Eileen fragte sich, was der alte Kautz noch so wusste und für sich behielt. „Mehr gibt es darüber nicht zu erzählen. Seither waren die Farradays und die Brennans Nachbarn.“
„Keine geheimen Fehden?“, neckte Eileen.
„Ne.“ Ralph verlagerte sein Gewicht. „Nicht einmal Gezanke. Aber meine Schwester Edna wäre beinahe mit Seans Onkel George durchgebrannt. Das war jahrelang das Gesprächsthema der Klatschweiber der Stadt. Edna war erst vierzehn und sie und George waren bis nach Butler Springs gekommen.“
„Wirklich?“ Eileen musste Sean fragen, ob er die Geschichte kannte. Ansonsten wusste sie, was das Gesprächsthema der nächsten Farraday-Familienfeier sein würde.
„Törichte Kinder. Zwei Jahre später heiratete Edna einen der Turner Jungs und zog nach Butler Springs. Und dein Onkel George lernte seine Martha kennen und zog zu ihr an den Waldrand. Und dafür die ganze Aufregung damals.“
„Nun, klingt jedenfalls aufregend. Also,“ Eileen klatschte in die Hände, „warum suchst du dir nicht eine Beschäftigung und ich fange oben an.“
„Wenn es dich nicht stört, es ist Zeit für mein Mittagsschläfchen. Ich werde mich etwas hinsetzten und fernsehen. Maria hat einen Krug Limonade in den Kühlschrank gestellt.“
„Setz dich und ich hole uns zwei Gläser.“
Ralph lächelte. „Du bist eine gute Seele, Eileen. Du hast dich deiner Schwester gegenüber anständig verhalten. Und jetzt verhältst du dich meiner Marjorie gegenüber anständig.
„Dafür sind Nachbarn doch da, Ralph.“ Es kam nicht oft vor, dass der frühe Tod ihrer Schwester sie noch so traf. In diesem Haus, wo die Zeit scheinbar stehengeblieben war, schien der Verlust jedoch frischer als eh und je. Eileen ging in die veraltete Küche. Während die Küche der Farradays kurz nach ihrer renoviert worden war, sah die Küche der Brennans aus, als wäre sie aus einer Siebziger Jahre Sitcom. Herbstgold war die dominierende Farbe. Das einzige moderne war die Mikrowelle aus Edelstahl, die in der Ecke stand. Selbst der Kühlschrank war noch das Modell von einst. Eileen konnte nicht glauben, dass das Teil noch funktionierte. Andererseits sollte es sie nicht überraschen. Der Kühlschrank stammte aus einer Zeit, in der Geräte noch gebaut wurden, um ein Leben lang zu halten. Oder in diesem speziellen Fall – mehrere Leben lang. Mit zwei kühlen Getränken in den Händen kehrte Eileen in das große Wohnzimmer zurück. „Bitte sehr, Ralph.“
Seine Augen waren geschlossen und auf seinen Lippen lag einem Lächeln und sie sah keinen Grund, seinen friedlichen Schlaf zu stören. Sie stellte das Glas auf den Tisch neben ihm und ein seltsames Gefühl kroch ihr den Rücken hinauf. Ihr Herz pochte und sie betrachtete sein friedliches Lächeln genauer. „Ralph“, flüsterte sie, während sie langsam nach seinem Arm griff. Eileen drückte zwei Finger auf die Innenseite seines Handgelenks.
Sie schloss die Augen und legte dieselben Finger an seinen Hals. „Oh, Ralph.“
Kapitel Zwei
Das Wissen, dass das Brennan-Anwesen bald ihm gehören würde, war das Einzige, was Connor Farraday davon abhielt, diesen neuen Deckhelfer über Bord zu werfen. Hand aufs Herz, dieser Mann schaffte es nicht, ihm aus dem Weg zu gehen. Es war harte Arbeit, ein Rohr auf einer Bohrinsel zu transportieren. An einem windigen Tag war es die Hölle und dieser Junge kapierte das nicht. Er müsste eine paar Tage in einem Bohr Camp auf dem Festland verbringen, wo er Gräben ausheben musste, bis er lernte, das zu tun, was man ihm sagte, wenn man es ihm sagte.
Unter diesen Bedingungen würde Connor es keinen weiteren Tag länger durchstehen, geschweige denn, die ganze kommende Woche bis zum Ende seines Turnus. Fünfzehn Tage Arbeit, sieben Tage frei. Er ging schon einige Zeit lang an sein Limit und nahm nicht die empfohlenen zwei Wochen frei, um sich zusätzliches Geld anzusparen. Er hatte langsam genug von diesem Kindergarten. Während seines Militärdienstes für Uncle Sam war ihm ziemlich schnell klar geworden, dass er nicht sein Leben lang Befehle ausführen wollte. Nicht für das Geld, das er beim Marine Corps verdiente. Auf einer Ölplattform zu arbeiten, egal ob an Land oder auf See, war Schwerstarbeit, bei der man verdammt gut verdiente. Er mochte die Aufregung, das rege Treiben, die ständigen Herausforderungen. Viele Männer machten diese Arbeit nur ein oder zwei Jahre, steckten das Geld ein und gingen wieder. Er aber hatte größere Pläne und nun war es an der Zeit, dass die harte Arbeit sich auszahlte.
„Leg dich richtig rein“, rief einer der Arbeiter dem Jungen zu.
Als er ihm ins Gesicht blickte, sah Connor die Sonnenbrille. „Wo zur Hölle ist deine Schutzbrille?“
„In meinem Zimmer.“
Ein super Ort, um Schutzausrüstung aufzubewahren. Einen kurzen Augenblick lang dachte Connor darüber nach, ihn zu fragen, ob er seine Kondome auch die ganze Nacht über in der Verpackung aufbewahrte. Nichts von beidem würde ihm etwas nützen. „Wofür brauchst du mitten in der Nacht eine Sonnenbrille?“
„Die ist von Versace.“
Wie konnte einer wie er nur an den Schlipsträgern vorbeikommen und unter Connors Zuständigkeit fallen? Der Junge würde sich vermutlich noch selbst umbringen, falls er zuvor nicht weinend nach Hause zu Mama lief, weil ihm ein Schraubenzieher auf den Fuß gefallen war. Oder noch schlimmer, jemand anderen umbringen, falls er nicht endlich anfing, einfach das zu tun, was man ihm sagte. „Hol deine verdammte Schutzbrille. Und wenn ich dich nochmal mit dieser Sonnenbrille hier sehe, wird es das letzte Mal gewesen sein, dass du sie gesehen hast. Verstanden?“
Der Junge hätte einfach nicken können, doch sein Blick sagte Connor klar und deutlich, dass er nicht kapierte. Wenn für ihn nicht bereits Licht am Ende des Tunnels zu sehen wäre, würde diese Schicht Connor vermutlich dazu bringen, wieder für Uncle Sam zu arbeiten. Idioten wie dieser Neuling waren das extra Geld nicht wert.
Nach der Hälfte seiner Zwölf-Stunden-Schicht war der Sonnenaufgang an diesem speziellen Morgen besonders schön. Fast wie eine Entschuldigung Gottes dafür, dass Connor sich mit diesem dummen Jungen herumschlagen musste. Die ruhige Kulisse für einen der gefährlichsten Jobs auf diesem Planeten.
Unter Deck in der Küche kippte Connor einen weiteren Energydrink hinunter, stellte sich in der Schlange an und belud seinen Teller. Sie hatten bei ihrer Arbeit eine Menge Kalorien verbraucht und es war an der Zeit, die Reserven aufzufüllen.
Als er zur selben Zeit Steak und Kartoffeln verputzte, wie seine Familie zu Hause Eier mit Speck zum Frühstück servierte, war es nicht verwunderlich, dass auf seinem Telefon ein Anruf seines Vaters einging. „Hey, Dad. Was bringt dich dazu, so früh am Tag anzurufen?“
„Ich dachte, es interessiert dich, dass Ralph Brennan gestern gestorben ist.“
Connors Gabel machte mitten auf dem Weg zu seinem Mund halt. „Was ist passiert?“
„Altersschwäche. Er setzte sich, schloss die Augen und schlief ein. Deine Tante Eileen war bei ihm.“
„Geht es ihr gut?“
„Ja, er ging ganz friedlich. Sie hätte nichts für ihn tun können.“
„Wow. Ich weiß ja, dass er alt war, aber das habe ich nicht kommen sehen.“
„Noch etwas, das du wissen solltest.“
Wenn die Stimme seines Vaters tiefer wurde, bedeutete das selten gute Neuigkeiten. „Was?“
„Seine Enkelin kommt hierher.“
„Enkelin? Dieses Gör?“
„Das kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls hat sie am Telefon mit Andy einiges arrangiert. Sie braucht noch etwas Zeit. Die Beerdigung wird also erst stattfinden, wenn sie da ist. In einer Woche etwa.“
„Ein langer Weg, um sich von jemanden zu verabschieden, für den man wie lange keine Zeit gehabt hat. Zwanzig, fünfundzwanzig Jahre?“
„Das ist die eine Sache. Sie kommt auch her, um zu entscheiden, was mit der Ranch passieren soll.“
Was noch auf seinem Teller lag, sah nicht mehr besonders appetitlich aus. „Was gibt es da zu entscheiden? Ich werde sie kaufen.“
„Nun ja.“ Sein Vater zögerte länger, als Connor lieb war. „Ich weiß das und du weißt das. Und vermutlich wusste das auch Ralph. Aber wie es scheint, weiß seine Enkeltochter das nicht.“
Connor schob seinen halb leer gegessenen Teller weg. „Nun, das werden wir noch sehen.“
* * *
„Warum warten die Leute immer, bis es zu spät ist?“, murmelte Catherine Hammond an ihre Assistentin Susan gerichtet.
„Soll ich darauf antworten?“ Susan sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Sie richtete ihren Blick wieder auf das Foto ihres Großvaters und schüttelte den Kopf „Ich hätte fahren sollen, als er das erste Mal gefragt hat.“
„Du warst mitten im Buchanan Prozess. Du hättest nicht fahren können, ohne deinen Vater zu verärgern. Und offen gestanden, Connie hätte den Vorsitz nicht gepackt. Sie war nicht bereit.“
Das waren die Gründe, die auch Catherine sich einredete. Es wäre Connie, der Firma und ihrem Vater gegenüber nicht fair gewesen. Er hatte die letzten Jahre viel riskiert, ihr die wichtigen Fälle zu übergeben. „Trotzdem ...“
„Du hättest nichts tun können.“ Susan stellte einen Stapel Unterlagen auf dem Schreibtisch ab und nahm einen anderen, der archiviert werden sollte.
„Ich hätte danach gehen können. Ich hätte Medcalfs Berufung ablehnen können.“
„Nicht, wenn du Partner werden willst. Du weißt genauso gut wie ich, die Familienkarte auszuspielen geht nicht, wenn man bei den großen Jungs mitspielen möchte.“
Wenn irgendjemand das wusste, dann Catherine. Sie hatte ihr Leben lang den Erwartungen ihres Vaters gerecht werden müssen. Hart arbeiten. Ihren Lohn ernten. Da blieb keine Zeit für Familie und Freunde. Und sie hatte sehr hart gearbeitet, Tag und Nacht. Sie hatte die High School als Jahrgangsbeste abgeschlossen, das College mit summa cum laude, war für ihr Jurastudium an die University of Chicago gegangen und hatte schließlich den Sohn des Geschäftspartners ihres Vaters geheiratet – alles, was von ihr erwartet worden war.
Nicht, dass sie für die Hochzeit mit David so viel hatte tun müssen, wie für den Rest ihrer Leistungen. Von ihr war erwartet worden, dass sie aufs College gehen und danach Jura studieren würde, um dann in Daddys Firma einzusteigen. David und sie waren in dem Wissen aufgewachsen, dass sie eines Tages heiraten und eine Familie gründen würden. Sie waren ein Team gewesen, solange sie zurückdenken konnte. Ein gutes Team. Natürlich äußerte sich ihr Vater nie darüber, wie sie beides meistern sollte, Partnerin in der Firma und Mutter zu sein.
„Du weißt, dass du alles erledigen kannst, ohne nach Texas zu fahren?“
Susan hielt Catherine Tag und Nacht den Rücken frei. Natürlich schob Catherine es auf die Tatsache, dass sie vermutlich ihre erste Vorgesetzte war, der Susans Sanduhrfigur egal war. Susan war mit Sicherheit wegen ihres Aussehens eingestellt worden. Mit über vierzig war sie noch immer eine Wucht. Doch Catherine schätzte vor allem ihren scharfen Verstand. Jede Minute, jeden Tag. „Ich muss. Das schulde ich ihm.“
„Wenigstens kann Richter Albanese dich gut leiden. Es wird bestimmt nicht schwierig sein, einen Aufschub zu bekommen.“
„Kein Aufschub.“ Catherine schüttelte den Kopf und blickte auf ihren Bildschirm. Das Lächeln ihres Großvaters verfolgte sie.
„Oh, sehr gut. Du bist wieder zur Vernunft gekommen.“
Die Erleichterung in Susans Lächeln machte es für Catherine nicht leichter, ihren Satz zu beenden. Sie wollte ihre Assistentin genauso wenig enttäuschen, wie ihren Vater. „Wir werden den Fall neu bewerten. Es wird den Rest der Woche dauern ...“ Sie blickte einen Moment lang aus dem Fenster und ließ sich die Namen der Juniorpartner durch den Kopf gehen. Dann grinste sie. „… Connie auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Wenn sie so gut ist, wie ich denke, ist sie bereit für ihren ersten Vorsitz. Dieser Fall wird ihre Karriere voranbringen.“
„Und deine beenden.“ Susan klammerte sich an einer Aktenmappe fest. „Hast du den Verstand verloren?“
„Nein.“ Catherine schob ihren Stuhl vom Schreibtisch weg. „Vielleicht habe ich ihn soeben gefunden.“