Graces trautes Heim
Kapitel Eins
Chase Prescott hielt die Tür zur Gasse auf und blickte erst nach links, dann nach rechts. Keine Spur von seinem neuen Freund. Er warf einen weiteren Müllbeutel auf den Haufen. Liebend gerne hätte er sein neues Geschäft geschlossen, umgestaltet, modernisiert und wiedereröffnet, aber sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass er es sich auf diesem kleinen Markt nicht leisten konnte, auch nur einen Kunden durch Unannehmlichkeiten zu verlieren. Seit er vor einer Woche seine Unterschrift auf die gepunktete Linie gesetzt hatte, gab Chase jeden Tag bevor er die Türen für seine Kunden öffnete sein Möglichstes, um ein paar Stunden Arbeit in das Sortieren und Ausmisten von über die Jahre liegengebliebenen Waren zu investieren. Als er an seinem zweiten Arbeitstag den Müll weggebracht hatte, war ihm ein Hund aufgefallen, der in der Seitengasse herumschlich.
Seine starken, intelligente Augen hatten Chase‘ Aufmerksamkeit erregt. In Manhattan schien jeder, den er kannte, kleine kläffende Hunde mit polierten Zehennägeln und Schleifen auf dem Kopf zu haben. In der Überzeugung, dass dieses prächtige Tier nach Nahrung suchte, war Chase wieder hineingegangen und mit seinem übrig gebliebenen Mittagessen zurückgekehrt, nur um festzustellen, dass der Hund so schnell verschwunden war, wie er aufgetaucht war.
Am folgenden Tag, nachdem er sich näher herangetraut hatte, hielt das umherstreifende Tier inne, um Chase von oben bis unten zu betrachten, fast so als würde es ihn mustern, bevor es schließlich weiterzog. Dasselbe Ritual war in den letzten Tagen Teil von Chase‘ Routine geworden. Jetzt, da er kurz davor war, für den heutigen Tag abzuschließen, fragte er sich, wo sein täglicher Besucher war.
Als er an dem Berg ausgemusterter Waren die Gassen hinunterspähte, musterten ihn wieder diese vertrauten bernsteinfarbenen Augen. „Habe ich den Test immer noch nicht bestanden?“ Chase ging in die Hocke und wartete, ob der Hund heute endlich nahe genug herankommen würde, um zu prüfen, ob er jemandem gehörte. Geduldig auf der Stelle balancierend, widerstand er dem Drang, einen Luftsprung zu machen, als der pelzige Vierbeiner langsam zu ihm trottete.
Er untersuchte den Hund vom Kopf bis zum Hinterteil und suchte nach Anzeichen von Verletzungen oder Mangelernährung. Obwohl der Bursche ziemlich schlank aussah, vermutete Chase, dass dies jedoch mehr mit einem hohen Stoffwechsel zu tun hatte. „Irgendwie“, er hielt dem Hund seine Handfläche zum Schnüffeln hin, „wette ich, dass es in deinem Stammbaum es einen oder zwei Wölfe gegeben hat.“ Oder drei. Seltsame Farbflecke deuteten darauf hin, dass seine Vorfahren mütterlicherseits höchstwahrscheinlich Hütehunde gewesen waren. Vielleicht Border Collies. Da Chase sich nun sicher war, dass ihm das Tier freundlich gestimmt war, hob er die Hand und kraulte den Hund hinter den Ohren. Es überraschte ihn, dass dieser seinen Kopf in Chase‘ Berührung lehnte. „Okay, vielleicht irre ich mich. Vielleicht gehörst du jemandem.“
Die altmodische Glocke über der Vordertür ertönte. Nicht dieses unausstehliche Geräusch moderner Elektronik, sondern das zarte Klingeln einer längst vergangenen Ära. Chase erhob sich langsam. „Tut mir leid, Junge, ich muss mich ums Geschäft kümmern.“ Jedes Mal, wenn dieses Geräusch ertönte, stieg ein Adrenalinstoß in Chase auf, der ihn antrieb. Wer hätte gedacht, dass eine dumme alte Glocke so aufregend sein konnte.
Vier Jahre an einer der besten Wirtschaftsuniversitäten des Landes. Zehn Jahre an der Wall Street, in denen er die Welt mitgeprägt und sein Bankkonto gefüllt hatte. Der Rest von Chase‘ Lebenslauf würde sich auf Besitzer einer kleinstädtischen Farm und eines Futtermittelladens reduzieren – und Gott, wie er bereits alles an diesem Ort liebte.
Der örtliche Polizeichef stand zusammen mit einem großen Mann, der scheinbar aus demselben Genpool stammte, in der Tür. „Hey.“
„Chief.“ An jedem anderen Ort oder zu jeder anderen Zeit hätte Chase angenommen, dass ein Besuch der örtlichen Behörde bedeutete, dass irgendwo etwas passiert war. Nicht so hier. Hier, das hatte er bereits gelernt, war es üblich, auf einen kurzen Plausch vorbeizukommen.
„Das ist keine offizielle Angelegenheit. Nenn mich D.J..“
„Gerne. Also D.J..“
D.J.s Fast-Klon streckte seine Hand aus. „Finn Farraday. Freut mich, dich kennenzulernen.“
„Geht mir genauso.“ Bevor er zustimmte, den Futterladen aufzukaufen, hatte Chase sich ein wenig umgesehen und wusste, dass die Farradays eine der größten Ranchen im County besaßen. Laut den wenigen Informationen, die Mr. Thomas nach dem Verkauf weitergegeben hatte, hatten die Farradays immer zu den besten Kunden des Ladens gehört.
„Wie ich sehe, änderst du den Namen nicht?“ Finn deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Ladenfront hinter ihm.
„Ich wollte –“
„Na, schau mal, wer hier ist.“ D.J. machte ein paar Schritte nach vorne und ging in die Hocke. Mit wedelndem Schwanz trottete der Streuner freudig auf ihn zu. „Du siehst aber glücklich aus.“ Der Polizeichef kraulte den Vierbeiner mit beiden Händen am Hals. Wäre der Hund eine Katze, würde er vermutlich schnurren.
Grinsend beugte sich Finn vor, um den Rücken des Hundes zu kraulen, blieb dann plötzlich stehen, legte den Kopf schief und blinzelte. „Sieht Gray für dich etwas größer aus?“
D.J. neigte seinen Körper ein wenig nach hinten und schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Du hast einen lieben Hund.“ Chase fand, dass der kräftige, geschmeidige Hund zu dem Mann passte.
„Ist nicht meiner.“ D.J. streichelte das Tier weiter.
Chase blickte zu Finn.
„Nein.“ Finn zuckte mit den Schultern. „Meiner auch nicht.“
„Hmm. Er sieht aber so aus, als würde er jemandem gehören.“
„Das dachten wir alle.“ Der Polizeichef tätschelte den Hund und richtete sich auf. „Wenn du herausfindest, wem er gehört, lass es uns unbedingt wissen.“
Chase nickte und fragte sich, wen er mit alle meinte. „Sicher doch.“
„Nun“, Finn streckte seine Hand aus, „ich wollte mich nur vorstellen und dich in der Stadt willkommen heißen. Ich bin spät dran, aber es war ein bisschen hektisch.“ Er grinste noch breiter als vor ein paar Minuten, als er den Hund entdeckt hatte. „Ich habe mich gerade verlobt.“
Langsam fügte sich alles zusammen. Chase war im Bed-and-Breakfast abgestiegen, bis er eine eigene Langzeitunterkunft gefunden hatte, und hatte viel über die Farradays gehört. Nachdem er Adam, Megs Ehemann, und D.J., den Polizeichef, bereits kennengelernt hatte, hätte es für Chase nicht so überraschend sein müssen, dass die Ähnlichkeit sich auf weitere Geschwister erstreckte. Jetzt war er auch überrascht zu hören, dass der stramme Mann vor ihm der jüngste Bruder war, der sich vor Kurzem verlobt hatte. „Herzlichen Glückwünsch.“
Stirnrunzelnd trat D.J. zur Seite. „Noch eine offene Tür?“
Chase nickte. „Ja, so ist mir der Hund gefolgt …“ Er sah sich um. „Wo ist er hin?“
„Das tut er immer. Er verschwindet einfach.“ Finn schüttelte den Kopf und machte einen weiteren Schritt zur Hinterseite des Ladens.
Die Glocke über der Tür ertönte und Gray sprang wie eine Sternschnuppe aus dem Nichts auf, stürmte an den drei Männern vorbei und sprang nach vorne.
„Scheiße“, hallten drei Männerstimmen.
Visionen von Wolfszähnen, die tief in einen ahnungslosen Kunden eindrangen, ließen Chase dem Tier hinterhersprinten. Verdammt. Mit Finn auf den Fersen, sah Chase, wie der Polizeichef in Richtung seines Holsters griff, und sein Herz blieb einen Augenblick stehen. Er wollte nicht, dass der Hund verletzt wurde, aber freundlich oder nicht, Streuner konnten unberechenbar sein. Das brauchte er jetzt. Weniger als eine Woche in der Stadt und schon würde Chase aus den falschen Gründen Schlagzeilen machen.
Ein lautes Heulen durchbrach die panische Stille. Im selben Augenblick schloss eine große Brünette die Tür hinter sich – mit ausgestreckten Armen hob D.J. seine Waffe in Richtung der Tür – und der blitzschnelle Hund sprang hoch und warf die Lady um und in eine Auslage mit Gartensamen.
Kleine Päckchen flogen durch die Luft und die mit Armen und Beinen um sich schlagende Frau stieß einen erstaunten Schrei aus. Der Polizeichef und sein Bruder kamen schweigend rechts und links von ihr zum Stehen.
„Was zum …?“ Anstatt ein blutendes Opfer vorzufinden, sah Chase, wie der Hund über der am Boden liegenden Frau stand und ihr Gesicht ableckte.
Die beiden Brüder brachen in schallendes Gelächter aus. Der Chief steckte seine Waffe ins Holster und Finn drehte sich um, schlug Chase auf die Schulter und murmelte grinsend: „Auf ein Neues.“
* * * *
Flach auf dem Rücken liegend, brauchte Grace ein paar zusätzliche Sekunden, um zu verarbeiten, was zum Teufel gerade passiert war. Mit zusammengekniffenen Augen fand sie schließlich heraus, dass der Hund des neuen Besitzers der Grund war, warum ihre Brüder sie auslachten. Was sie nicht verstand, war, warum in aller Welt das Tier sie wie einen verschollenen Verwandten ansabberte. „Würde bitte jemand Rover von mir wegnehmen?“
Der Mann, den sie für den neuen Besitzer des Futtermittelladens hielt, stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Zu ihrer großen Erleichterung rannte das Tier in seine Richtung davon. Gleichzeitig tauchten von beiden Seiten zwei Arme vor ihr auf.
„Bist du okay, Schwesterchen?“ D.J.s Stimme übertönte die von Finn.
Grace stand auf, richtete ihre Kleidung zurecht und ließ ihre Verlegenheit und die Bruchlandung hinter sich, während sie den Mann genauer betrachtete, der die pelzige Bestie jetzt zum hinteren Bereich des Ladens eskortierte. „Sie müssen diesem Tier wirklich Manieren beibringen.“
D.J. unterdrückte ein Lächeln, doch Finn gab sich keinerlei Mühe, seine Heiterkeit zu verbergen.
„Diesbezüglich.“ Finn musterte sie von Kopf bis Fuß, versicherte sich, dass sie nicht verletzt war, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist Gray.“
Sie blinzelte nachdenklich und blickte von Finn zu D.J..
„Der Hund“, erklärte D.J..
„Er sollte dort eingepfercht werden, wo er den Kunden nicht schaden kann.“ Obwohl ihre Jeans keine Anzeichen von Beschädigung aufwies, strich sie über ein imaginäres Staubkorn.
„Nein, Schwesterchen.“ D.J. wiederholte: „Der Hund.“
„Wie auch immer“, sie winkte ab und drehte sich in die Richtung, aus der der Ladenbesitzer zurückkehrte. „Alles, was nötig ist, um Pleite zu machen, bevor man überhaupt angefangen hat, ist ein Kunde, der einen verklagt, weil man versucht hat, ihn zu töten. Einen sehr angepissten Kunden.“
„Fairerweise, bevor du etwas sagts“, D.J. sah den Ladenbesitzer an, „sollte ich dich warnen. Sie ist Anwältin.“
„Sie hat ihre Zulassung noch nicht“, entgegnete Finn. „Technisch gesehen …“
Grace warf ihrem etwas älteren Bruder einen giftigen Blick zu. War es nicht schlimm genug, dass sie gerade einen Sturz erlitten hatte, der für ein Slapstick-Varieté geeignet war? Sie brauchte ihren Bruder nicht, um Details zu betonen. „Ich bin Anwältin. Und falls Sie es noch nicht wissen, ich habe eine Schwägerin, die nicht nur eine äußerst erfahrene und gefürchtete Prozessanwältin ist, sondern auch eine Lizenz zur Prozessführung in Texas hat.“
„Sie hat Recht.“ D.J. zuckte mit den Schultern, bevor er Chase ansah.
„Es tut mir leid –“, begann Chase.
„Das sollte es.“ Sie würgte seine versuchte Entschuldigung ab und strich sicherheitshalber über einen Arm, bevor sie über das Durcheinander neben ihr zeigte. „Ihr Hund ist eine Bedrohung.“
„Aber er ist nicht mein Hund.“ Der Mann hatte ein irritierend ansprechendes Lächeln.
Wenn sie wütend war, sollte sie nicht bemerken, dass ein Mann gut aussah. Oder dass seine Augen funkelten. „Lachen Sie mich aus?“
„Nein, Madam.“ Seine Augen weiteten sich. „Ich weise nur darauf hin, dass ich nicht der Besitzer des Hundes bin.“
Grace machte einen Schritt nach vorne und Finn stellte sich vor sie. „Wir haben es dir gesagt, Schwesterchen. Das ist der Hund.“
Wütend auf ihren Bruder, weil er ihr den Weg versperrte, dauerte es länger als nötig, bis sie merkte, dass ihre Geschwister versuchten, ihr etwas mitzuteilen. Etwas, das sie eindeutig nicht verstand.
Mit seiner rechten Hand tippte D.J. auf den Ringfinger seiner linken Hand.
Und da verstand sie. „Oh, verdammt nein.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und kletterte über das Durcheinander auf dem Boden.
„Ich glaube, ich verstehe nicht.“ Der Ladenbesitzer blickte zwischen den Geschwistern hin und her.
Finn und D.J. tauschten einen Blick aus und lächelten, gefolgt von lässigem Achselzucken.
„Fangen wir mit der Vorstellung an.“ D.J. sah zu seiner Schwester. „Grace, das ist Chase Prescott. Er ist derjenige, der dieses Geschäft vom alten Thomas gekauft hat.“ Mit einer halben Drehung in Chase‘ Richtung und einer Armbewegung in Richtung Grace fuhr er fort. „Und Chase, lass mich dir meine Schwester Grace vorstellen.“
Finn kicherte. „Und laut Gray deine zukünftige Frau.“
Chase Prescott hielt die Tür zur Gasse auf und blickte erst nach links, dann nach rechts. Keine Spur von seinem neuen Freund. Er warf einen weiteren Müllbeutel auf den Haufen. Liebend gerne hätte er sein neues Geschäft geschlossen, umgestaltet, modernisiert und wiedereröffnet, aber sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass er es sich auf diesem kleinen Markt nicht leisten konnte, auch nur einen Kunden durch Unannehmlichkeiten zu verlieren. Seit er vor einer Woche seine Unterschrift auf die gepunktete Linie gesetzt hatte, gab Chase jeden Tag bevor er die Türen für seine Kunden öffnete sein Möglichstes, um ein paar Stunden Arbeit in das Sortieren und Ausmisten von über die Jahre liegengebliebenen Waren zu investieren. Als er an seinem zweiten Arbeitstag den Müll weggebracht hatte, war ihm ein Hund aufgefallen, der in der Seitengasse herumschlich.
Seine starken, intelligente Augen hatten Chase‘ Aufmerksamkeit erregt. In Manhattan schien jeder, den er kannte, kleine kläffende Hunde mit polierten Zehennägeln und Schleifen auf dem Kopf zu haben. In der Überzeugung, dass dieses prächtige Tier nach Nahrung suchte, war Chase wieder hineingegangen und mit seinem übrig gebliebenen Mittagessen zurückgekehrt, nur um festzustellen, dass der Hund so schnell verschwunden war, wie er aufgetaucht war.
Am folgenden Tag, nachdem er sich näher herangetraut hatte, hielt das umherstreifende Tier inne, um Chase von oben bis unten zu betrachten, fast so als würde es ihn mustern, bevor es schließlich weiterzog. Dasselbe Ritual war in den letzten Tagen Teil von Chase‘ Routine geworden. Jetzt, da er kurz davor war, für den heutigen Tag abzuschließen, fragte er sich, wo sein täglicher Besucher war.
Als er an dem Berg ausgemusterter Waren die Gassen hinunterspähte, musterten ihn wieder diese vertrauten bernsteinfarbenen Augen. „Habe ich den Test immer noch nicht bestanden?“ Chase ging in die Hocke und wartete, ob der Hund heute endlich nahe genug herankommen würde, um zu prüfen, ob er jemandem gehörte. Geduldig auf der Stelle balancierend, widerstand er dem Drang, einen Luftsprung zu machen, als der pelzige Vierbeiner langsam zu ihm trottete.
Er untersuchte den Hund vom Kopf bis zum Hinterteil und suchte nach Anzeichen von Verletzungen oder Mangelernährung. Obwohl der Bursche ziemlich schlank aussah, vermutete Chase, dass dies jedoch mehr mit einem hohen Stoffwechsel zu tun hatte. „Irgendwie“, er hielt dem Hund seine Handfläche zum Schnüffeln hin, „wette ich, dass es in deinem Stammbaum es einen oder zwei Wölfe gegeben hat.“ Oder drei. Seltsame Farbflecke deuteten darauf hin, dass seine Vorfahren mütterlicherseits höchstwahrscheinlich Hütehunde gewesen waren. Vielleicht Border Collies. Da Chase sich nun sicher war, dass ihm das Tier freundlich gestimmt war, hob er die Hand und kraulte den Hund hinter den Ohren. Es überraschte ihn, dass dieser seinen Kopf in Chase‘ Berührung lehnte. „Okay, vielleicht irre ich mich. Vielleicht gehörst du jemandem.“
Die altmodische Glocke über der Vordertür ertönte. Nicht dieses unausstehliche Geräusch moderner Elektronik, sondern das zarte Klingeln einer längst vergangenen Ära. Chase erhob sich langsam. „Tut mir leid, Junge, ich muss mich ums Geschäft kümmern.“ Jedes Mal, wenn dieses Geräusch ertönte, stieg ein Adrenalinstoß in Chase auf, der ihn antrieb. Wer hätte gedacht, dass eine dumme alte Glocke so aufregend sein konnte.
Vier Jahre an einer der besten Wirtschaftsuniversitäten des Landes. Zehn Jahre an der Wall Street, in denen er die Welt mitgeprägt und sein Bankkonto gefüllt hatte. Der Rest von Chase‘ Lebenslauf würde sich auf Besitzer einer kleinstädtischen Farm und eines Futtermittelladens reduzieren – und Gott, wie er bereits alles an diesem Ort liebte.
Der örtliche Polizeichef stand zusammen mit einem großen Mann, der scheinbar aus demselben Genpool stammte, in der Tür. „Hey.“
„Chief.“ An jedem anderen Ort oder zu jeder anderen Zeit hätte Chase angenommen, dass ein Besuch der örtlichen Behörde bedeutete, dass irgendwo etwas passiert war. Nicht so hier. Hier, das hatte er bereits gelernt, war es üblich, auf einen kurzen Plausch vorbeizukommen.
„Das ist keine offizielle Angelegenheit. Nenn mich D.J..“
„Gerne. Also D.J..“
D.J.s Fast-Klon streckte seine Hand aus. „Finn Farraday. Freut mich, dich kennenzulernen.“
„Geht mir genauso.“ Bevor er zustimmte, den Futterladen aufzukaufen, hatte Chase sich ein wenig umgesehen und wusste, dass die Farradays eine der größten Ranchen im County besaßen. Laut den wenigen Informationen, die Mr. Thomas nach dem Verkauf weitergegeben hatte, hatten die Farradays immer zu den besten Kunden des Ladens gehört.
„Wie ich sehe, änderst du den Namen nicht?“ Finn deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Ladenfront hinter ihm.
„Ich wollte –“
„Na, schau mal, wer hier ist.“ D.J. machte ein paar Schritte nach vorne und ging in die Hocke. Mit wedelndem Schwanz trottete der Streuner freudig auf ihn zu. „Du siehst aber glücklich aus.“ Der Polizeichef kraulte den Vierbeiner mit beiden Händen am Hals. Wäre der Hund eine Katze, würde er vermutlich schnurren.
Grinsend beugte sich Finn vor, um den Rücken des Hundes zu kraulen, blieb dann plötzlich stehen, legte den Kopf schief und blinzelte. „Sieht Gray für dich etwas größer aus?“
D.J. neigte seinen Körper ein wenig nach hinten und schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Du hast einen lieben Hund.“ Chase fand, dass der kräftige, geschmeidige Hund zu dem Mann passte.
„Ist nicht meiner.“ D.J. streichelte das Tier weiter.
Chase blickte zu Finn.
„Nein.“ Finn zuckte mit den Schultern. „Meiner auch nicht.“
„Hmm. Er sieht aber so aus, als würde er jemandem gehören.“
„Das dachten wir alle.“ Der Polizeichef tätschelte den Hund und richtete sich auf. „Wenn du herausfindest, wem er gehört, lass es uns unbedingt wissen.“
Chase nickte und fragte sich, wen er mit alle meinte. „Sicher doch.“
„Nun“, Finn streckte seine Hand aus, „ich wollte mich nur vorstellen und dich in der Stadt willkommen heißen. Ich bin spät dran, aber es war ein bisschen hektisch.“ Er grinste noch breiter als vor ein paar Minuten, als er den Hund entdeckt hatte. „Ich habe mich gerade verlobt.“
Langsam fügte sich alles zusammen. Chase war im Bed-and-Breakfast abgestiegen, bis er eine eigene Langzeitunterkunft gefunden hatte, und hatte viel über die Farradays gehört. Nachdem er Adam, Megs Ehemann, und D.J., den Polizeichef, bereits kennengelernt hatte, hätte es für Chase nicht so überraschend sein müssen, dass die Ähnlichkeit sich auf weitere Geschwister erstreckte. Jetzt war er auch überrascht zu hören, dass der stramme Mann vor ihm der jüngste Bruder war, der sich vor Kurzem verlobt hatte. „Herzlichen Glückwünsch.“
Stirnrunzelnd trat D.J. zur Seite. „Noch eine offene Tür?“
Chase nickte. „Ja, so ist mir der Hund gefolgt …“ Er sah sich um. „Wo ist er hin?“
„Das tut er immer. Er verschwindet einfach.“ Finn schüttelte den Kopf und machte einen weiteren Schritt zur Hinterseite des Ladens.
Die Glocke über der Tür ertönte und Gray sprang wie eine Sternschnuppe aus dem Nichts auf, stürmte an den drei Männern vorbei und sprang nach vorne.
„Scheiße“, hallten drei Männerstimmen.
Visionen von Wolfszähnen, die tief in einen ahnungslosen Kunden eindrangen, ließen Chase dem Tier hinterhersprinten. Verdammt. Mit Finn auf den Fersen, sah Chase, wie der Polizeichef in Richtung seines Holsters griff, und sein Herz blieb einen Augenblick stehen. Er wollte nicht, dass der Hund verletzt wurde, aber freundlich oder nicht, Streuner konnten unberechenbar sein. Das brauchte er jetzt. Weniger als eine Woche in der Stadt und schon würde Chase aus den falschen Gründen Schlagzeilen machen.
Ein lautes Heulen durchbrach die panische Stille. Im selben Augenblick schloss eine große Brünette die Tür hinter sich – mit ausgestreckten Armen hob D.J. seine Waffe in Richtung der Tür – und der blitzschnelle Hund sprang hoch und warf die Lady um und in eine Auslage mit Gartensamen.
Kleine Päckchen flogen durch die Luft und die mit Armen und Beinen um sich schlagende Frau stieß einen erstaunten Schrei aus. Der Polizeichef und sein Bruder kamen schweigend rechts und links von ihr zum Stehen.
„Was zum …?“ Anstatt ein blutendes Opfer vorzufinden, sah Chase, wie der Hund über der am Boden liegenden Frau stand und ihr Gesicht ableckte.
Die beiden Brüder brachen in schallendes Gelächter aus. Der Chief steckte seine Waffe ins Holster und Finn drehte sich um, schlug Chase auf die Schulter und murmelte grinsend: „Auf ein Neues.“
* * * *
Flach auf dem Rücken liegend, brauchte Grace ein paar zusätzliche Sekunden, um zu verarbeiten, was zum Teufel gerade passiert war. Mit zusammengekniffenen Augen fand sie schließlich heraus, dass der Hund des neuen Besitzers der Grund war, warum ihre Brüder sie auslachten. Was sie nicht verstand, war, warum in aller Welt das Tier sie wie einen verschollenen Verwandten ansabberte. „Würde bitte jemand Rover von mir wegnehmen?“
Der Mann, den sie für den neuen Besitzer des Futtermittelladens hielt, stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Zu ihrer großen Erleichterung rannte das Tier in seine Richtung davon. Gleichzeitig tauchten von beiden Seiten zwei Arme vor ihr auf.
„Bist du okay, Schwesterchen?“ D.J.s Stimme übertönte die von Finn.
Grace stand auf, richtete ihre Kleidung zurecht und ließ ihre Verlegenheit und die Bruchlandung hinter sich, während sie den Mann genauer betrachtete, der die pelzige Bestie jetzt zum hinteren Bereich des Ladens eskortierte. „Sie müssen diesem Tier wirklich Manieren beibringen.“
D.J. unterdrückte ein Lächeln, doch Finn gab sich keinerlei Mühe, seine Heiterkeit zu verbergen.
„Diesbezüglich.“ Finn musterte sie von Kopf bis Fuß, versicherte sich, dass sie nicht verletzt war, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist Gray.“
Sie blinzelte nachdenklich und blickte von Finn zu D.J..
„Der Hund“, erklärte D.J..
„Er sollte dort eingepfercht werden, wo er den Kunden nicht schaden kann.“ Obwohl ihre Jeans keine Anzeichen von Beschädigung aufwies, strich sie über ein imaginäres Staubkorn.
„Nein, Schwesterchen.“ D.J. wiederholte: „Der Hund.“
„Wie auch immer“, sie winkte ab und drehte sich in die Richtung, aus der der Ladenbesitzer zurückkehrte. „Alles, was nötig ist, um Pleite zu machen, bevor man überhaupt angefangen hat, ist ein Kunde, der einen verklagt, weil man versucht hat, ihn zu töten. Einen sehr angepissten Kunden.“
„Fairerweise, bevor du etwas sagts“, D.J. sah den Ladenbesitzer an, „sollte ich dich warnen. Sie ist Anwältin.“
„Sie hat ihre Zulassung noch nicht“, entgegnete Finn. „Technisch gesehen …“
Grace warf ihrem etwas älteren Bruder einen giftigen Blick zu. War es nicht schlimm genug, dass sie gerade einen Sturz erlitten hatte, der für ein Slapstick-Varieté geeignet war? Sie brauchte ihren Bruder nicht, um Details zu betonen. „Ich bin Anwältin. Und falls Sie es noch nicht wissen, ich habe eine Schwägerin, die nicht nur eine äußerst erfahrene und gefürchtete Prozessanwältin ist, sondern auch eine Lizenz zur Prozessführung in Texas hat.“
„Sie hat Recht.“ D.J. zuckte mit den Schultern, bevor er Chase ansah.
„Es tut mir leid –“, begann Chase.
„Das sollte es.“ Sie würgte seine versuchte Entschuldigung ab und strich sicherheitshalber über einen Arm, bevor sie über das Durcheinander neben ihr zeigte. „Ihr Hund ist eine Bedrohung.“
„Aber er ist nicht mein Hund.“ Der Mann hatte ein irritierend ansprechendes Lächeln.
Wenn sie wütend war, sollte sie nicht bemerken, dass ein Mann gut aussah. Oder dass seine Augen funkelten. „Lachen Sie mich aus?“
„Nein, Madam.“ Seine Augen weiteten sich. „Ich weise nur darauf hin, dass ich nicht der Besitzer des Hundes bin.“
Grace machte einen Schritt nach vorne und Finn stellte sich vor sie. „Wir haben es dir gesagt, Schwesterchen. Das ist der Hund.“
Wütend auf ihren Bruder, weil er ihr den Weg versperrte, dauerte es länger als nötig, bis sie merkte, dass ihre Geschwister versuchten, ihr etwas mitzuteilen. Etwas, das sie eindeutig nicht verstand.
Mit seiner rechten Hand tippte D.J. auf den Ringfinger seiner linken Hand.
Und da verstand sie. „Oh, verdammt nein.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und kletterte über das Durcheinander auf dem Boden.
„Ich glaube, ich verstehe nicht.“ Der Ladenbesitzer blickte zwischen den Geschwistern hin und her.
Finn und D.J. tauschten einen Blick aus und lächelten, gefolgt von lässigem Achselzucken.
„Fangen wir mit der Vorstellung an.“ D.J. sah zu seiner Schwester. „Grace, das ist Chase Prescott. Er ist derjenige, der dieses Geschäft vom alten Thomas gekauft hat.“ Mit einer halben Drehung in Chase‘ Richtung und einer Armbewegung in Richtung Grace fuhr er fort. „Und Chase, lass mich dir meine Schwester Grace vorstellen.“
Finn kicherte. „Und laut Gray deine zukünftige Frau.“