Flitterwochen zu viert
Kapitel 1
„Was du wirklich brauchst, ist ein Mann.“
Wenn Angie Cannon jedes Mal, wenn ihre Freundin Pam den Satz sagte, einen Dollar bekommen hätte, wäre sie inzwischen in der Lage gewesen, sich sämtliche Häuser ihres Straßenzugs zu leisten. „Ich weiß, dass du und Gil so glücklich seid wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser, aber ich löse meine Probleme lieber selbst. Ein Mann ist nicht die Antwort.“
„Könnte er aber sein, wenn du den richtigen findest.“ Wenn es jemanden gab, den man auf dem Gebiet als Expertin hätte bezeichnen können, dann wäre das Pam gewesen. Die große, attraktive und immer farbenfroh angezogene rothaarige Schönheit hatte vor zwei Jahren ihre erste große Liebe, die gleichzeitig ihr erster Ehemann gewesen war, zum zweiten Mal geheiratet. Dazwischen hatte sie drei weitere Ehemänner und einen Verlobten gehabt, bevor sie schließlich ihr Glück fand.
„Was ich brauche, ist ein Mitbewohner. Das würde zumindest gegen die überraschenden Kosten helfen, die ständig anfallen.“ Nachdem ihre Spülmaschine im letzten kalten Winter vollkommen unerwartet den Geist aufgegeben hatte, hatte sie lange das Geschirr per Hand gespült, bis sie bereit gewesen war, den Preis für eine neue, sehr leise Maschine zu bezahlen. Damit zu warten, bis sie wieder genug Geld auf dem Konto hatte, um den Boiler zu ersetzen, war allerdings keine Option. Sie würde niemals ein Fan von kalten Duschen werden.
„Zu schade, dass ich keine Schwester habe. Dann könnte ich es wie die Ummarinos nebenan machen.“
Pam zuckte mit den Schultern. „Du und deine Mom scheinen ziemlich viel Zeit miteinander zu verbringen, vor allem seit dein Dad gestorben ist. Ihr kommt besser miteinander klar als jedes andere Mutter-Tochter-Gespann, das ich kenne.“
„Was wirklich nicht schwer ist. Mom war immer schon auch meine Freundin.“
„Ich weiß. Und normalerweise würde ich niemals vorschlagen, dass deine Mutter bei dir einzieht, weil das deinem Lebensstil nicht zuträglich wäre; aber seit ich dich kenne, scheint das Aufregendste an diesem Lebensstil zu sein, lange aufzubleiben, um dir mit einer riesigen Schüssel gebuttertem Popcorn einen deiner Lieblingsfilme anzusehen. Würde deine Mom hier leben, hättest du zumindest jemanden, mit dem du dich unterhalten kannst.“
Angie schüttelte den Kopf. „Das habe ich ihr schon mal angeboten, kurz nachdem Dad gestorben war. Sie wollte aber nichts davon hören.“ Abgesehen davon – was sie Pam jedoch garantiert nicht auf die Nase binden würde – klangen ihre Mutter und sie wie eine Schallplatte mit Sprung, wenn sie in eine Diskussion darüber gerieten, dass Angie mehr ausgehen, sich häufiger mit Leuten treffen, weniger arbeiten und überhaupt nicht so tun sollte, als wäre sie mit ihrem Job verheiratet. Obwohl sie selbst immer überzeugt gewesen war, dass ein Aufstieg auf der Karriereleiter wichtig war, um sich fürs Alter abzusichern. Sie hatte einfach nicht daran gedacht, wie schnell die Jahre vergehen würden oder wie viel schwieriger es mit jedem dieser Jahre werden würde, den perfekten Mann zu finden – falls es den überhaupt gab.
Die Klingel läutete im selben Moment, in dem der Türknauf gedreht und die schwere Haustür aus Holz aufgerissen wurde.
„Ich habe mit Onkel Tony geredet. Er ist bereit, dir den Familienrabatt zu geben. Es gibt wahrscheinlich nur einen winzigen Haken.“ Mina blieb abrupt stehen. Sie war Angies Nachbarin und die älteste der drei Schwestern, die das Haus nebenan gekauft hatten, das früher ihrer Freundin Michelle gehört hatte. „Oh, tut mir leid. Ich hätte nicht einfach reinplatzen sollen.“
„Kein Problem, ich wusste ja, dass du zurückkommen würdest.“ Angie tat die Verlegenheit ihrer Nachbarin mit einer wegwerfenden Geste ab und deutete auf Pam. „Du erinnerst dich vielleicht an meine Freundin Pam.“
„Klar.“ Mina streckte die Hand aus. „Dein Mann hat Angie geholfen, die Weihnachtsbeleuchtung anzubringen.“
Pam nickte grinsend. „Nur eine Sache, in der er gut ist.“
Angie hinderte sich in letzter Sekunde daran, den Kopf zu schütteln, verdrehte aber dennoch kurz die Augen.
Mina auf der anderen Seite schien Pams Anspielung kein bisschen aus dem Konzept zu bringen. „Was die anderen Dinge angeht, kann ich mir kein Urteil erlauben; aber selbst mein Vater war mit der Arbeit deines Mannes zufrieden. Und glaub mir, wenn ich sage, dass Vito Ummarino nicht gerade mit Komplimenten um sich schmeißt.“ Mina warf in einer übertriebenen Geste die Hand nach oben. „Außer natürlich, man kommt aus Italien, dann kann man absolut nichts falsch machen.“
„Wo wir gerade davon sprechen“, Pam hielt den riesigen Hummerkochtopf hoch und ging damit an Angie und ihrer Nachbarin vorbei, „ich sollte langsam zusehen, dass ich loskomme. Als ich zu Hause weg bin, haben mein Mann und seine Kumpel schon Hummerrennen veranstaltet. Wahrscheinlich sind sie inzwischen auf halbem Weg nach Nebraska.“
„Lasst es euch schmecken.“ Angie umarmte ihre Freundin zum Abschied und schloss leise die Tür hinter ihr.
Mina hielt ihr ein Blatt Papier hin. „Das Schöne an einer großen italienischen Familie ist, dass es immer jemanden gibt, der Dinge reparieren kann. Leider hängen andererseits auch dann immer Verwandte bei einem rum, wenn nichts kaputt ist.“
„Vielen Dank. Ich habe mich so darauf konzentriert, das Haus vorzeitig abzuzahlen, dass ich nicht genug Geld für mehrere aufeinanderfolgende Pannen zurückgelegt habe.“
„Hm.“ Mina biss sich auf die Unterlippe. „Ich sollte dich allerdings warnen.“
Angie sah von dem Blatt Papier in ihrer Hand auf.
„Onkel Vito ist ein sehr guter Klempner. Für ihn ist Angela ein italienischer Name, wodurch du für seine Begriffe zur Familie zählst.“
„Ich habe das Gefühl, das gleich ein ‚Aber‘ folgt.“
„Eher eine kleine Vorwarnung. Mein Cousin Giovanni ist Single und glücklich damit, aber mein Onkel Vito glaubt nicht an so was wie glückliche Singles. Deswegen wird er vielleicht einen kleinen … Verkupplungsversuch starten.“
„Wie klein?“
Mina zuckte mit den Schultern. „Könnte so ziemlich alles sein von meinen Cousin, den Buchhalter, dazu überreden, seinem Vater bei der Installation des Boilers zu helfen, bis hin zu einer Einladung zum Sonntagsessen.“
„Das klingt doch gar nicht so schlimm.“ Trotzdem machte sie Minas Gesichtsausdruck nervös.
„Erinnerst du dich an den Film My Big Fat Greek Wedding?“
„Tut das nicht so ziemlich jeder?“
„Na ja“, Mina zuckte wieder mit den Schultern, „das ist quasi meine Familie, nur dass wir Italiener sind. Wenn es dir nichts ausmacht, dass sie es sich ab und zu in deinem Leben bequem machen, und du die Tatsache ignorieren kannst, dass alle neugierig sind und ständig auf dich einreden werden. Der Rabatt sollte es auf jeden Fall wert sein.“
„Klingt nach einem Plan. Danke noch mal.“
„Jederzeit gerne. Und falls du später noch nichts vorhast – meine Mom bringt überbackene Ziti vorbei. Offensichtlich ist sie der Ansicht, dass sie keiner von uns dreien das Kochen beigebracht hat; und sie macht immer genug, um ein ganzes Marine-Bataillon zu versorgen. Wir hätten auf jeden Fall nichts dagegen, die Kalorien mit jemandem zu teilen.“
Angie kicherte. Sie bezweifelte, dass die drei Schwestern auch nur den blassesten Schimmer hatten, was italienisches Essen den Hüften einer Frau über dreißig antun konnte. Andererseits könnte, abhängig vom Ergebnis von Onkel Vitos und Cousin Giovannis Arbeit, ein wenig Hausmannskost zum Abendessen vielleicht hilfreich sein. „Ich gebe dir Bescheid.“
Mina verschwand mit einem Winken durch die Tür und überquerte im Laufschritt den Rasen, als der Klingelton zu hören war, den Angie in ihren Kontakten ihrer Mutter zugeordnet hatte.
„Hi Mom.“
„Hey mein Schatz. Wie ist dein Tag?“
„Der Boiler hat den Geist aufgegeben.“
„Oh nein. Immerhin bist du jetzt damit durch.“
„Damit durch?“
„Es heißt, dass Unglück immer im Dreierpack auftritt. Erst deine Spülmaschine, dann der Ersatzreifen und jetzt der Boiler. Damit müsste deine Pechsträhne vorbei sein. Den Rest des Jahres sollte es keine Probleme mehr geben.“
Natürlich musste ihre Mutter sie an den Vorfall mit dem Auto erinnern. Angie hatte neulich einen Reifen ihres Wagens platt wie einen Pfannkuchen vorgefunden und bald darauf feststellen müssen, dass der Ersatzreifen keine Hilfe darstellte. Beide Reifen hatten ersetzt werden müssen. Hoffentlich behielt ihre Mom recht damit, dass sich Angie nun wenigstens den Rest des Jahres keine Sorgen mehr um irgendwas machen musste.
„Und was ist bei dir so los?“
„Na ja“, ihre Mutter klang jetzt fröhlicher, „ich habe mich für eine Veränderung entschieden.“
Angie war sich nicht sicher, ob ihr gefallen würde, was als Nächstes kam. „Ach ja? Was für eine Veränderung?“
„Ich mache Urlaub.“
Erleichterung durchströmte sie. So lange Angie denken konnte, hielt jeder Julia Cannon für eine liebenswerte und warmherzige Frau. Für Angie war ihre Mutter ihre beste Freundin, ihre Cheerleaderin Nummer eins und immer die Schulter gewesen, an der sie sich ausweinen konnte, wenn das Leben mal wieder nicht ganz fair schien. Alles, was am Leben gut war und Spaß machte, hatte Angie von ihrer Mutter gelernt. Abgesehen davon, dass Julia seit dem Tod von Angies Vater in gewisser Weise zur Stubenhockerin geworden war. In den letzten Wochen hatte sie sich merkwürdig verhalten. Sie war weniger gesprächig und beschäftigter als sonst gewesen. Nicht, dass das schlimm wäre. Angie wollte, dass ihre Mutter ein erfülltes Leben hatte, dennoch konnte sie einfach nicht anders, als sich immer ein wenig Sorgen um sie zu machen. Von den wenigen engen Freundinnen, die ihre Mutter hatte, war nur eine unverheiratet und konnte sie möglicherweise in den Urlaub begleiten.
„Wie schön. Und mit wem verreist du? Mit Mabel aus deiner Canasta-Runde?“
„Nein.“ Als ihre Mom daraufhin einige Sekunden schwieg, kehrte das nervöse Gefühl in Angies Magen zurück. „Ich mache eine Kreuzfahrt.“
„Allein?“
Ihre Mom räusperte sich. „Nein.“
Angies ungutes Gefühl nahm zu, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter den Rest ausspuckte.
„Ich werde heiraten.“
* * *
Eine weitere Stunde an seinem Schreibtisch, und Devon Miller war überzeugt, dass er dauerhaft schielen würde.
„Wenn du eine Frau und eine Familie hättest, würdest du nicht so viel arbeiten.“ Sein Dad, der in der Tür stand, stieß ein leises Seufzen aus. „Im Ernst, es ist lange nach Feierabend. Du solltest wirklich Schluss machen.“
Für Dev war Raymond Miller der perfekte Vater gewesen. Trotz seiner Unternehmenskarriere, bei der er stets unter Druck gestanden hatte, war er bei jeder Sportveranstaltung und jeder Schulaufführung dabei gewesen, hatte täglich seine Hausaufgaben kontrolliert, an sämtlichen Vater-Sohn-Camping- und Pfadfinder- Ausflügen und vielen anderen Aktivitäten nach der Schule teilgenommen. Er hatte Devon all die Unterstützung gegeben, die er brauchte, um das College und seinen MBA zu schaffen. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater hatten dafür gesorgt, dass seine Kindheitserinnerungen allesamt an verdammt idyllisch grenzten. Leider war Raymond Miller als Rentner ein kleiner Nörgler geworden.
„Schön dich zu sehen, Pa.“ Dev löste die Finger von der Mouse und klappte seinen Laptop zu. Die Uhr an der Wand verriet ihm, dass es halb acht und damit tatsächlich Zeit war, den Arbeitstag zu beenden. Sonst würde er wirklich anfangen zu schielen. „Du bist gerade noch pünktlich gekommen, um ein Steak zum Abendessen zu braten, das die Bezeichnung verdient und noch kein Mitternachtssnack ist.“
„Ehrlich gesagt habe ich schon gegessen.“
Dev warf einen weiteren Blick auf die Uhr, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht vertan hatte. Sein Vater hatte schon immer eher spät zu Abend gegessen.
„Lass uns eine Runde spazieren gehen.“
„Spazieren gehen?“ Er und sein Vater unternahmen viel zusammen, aber Abendspaziergänge gehörten nicht dazu.
Dev stieß sich vom Schreibtisch ab und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sein Verstand unternahm einen halbherzigen Versuch, sämtliche Möglichkeiten durchzugehen, warum sein Vater so ernst aussah und ein Spaziergang als Ablenkung erforderlich war, um Dev zu erzählen, worum es ging.
„Mach dir keine Sorgen.“ Kopfschüttelnd ging ihm sein Dad durch den Flur voraus.
„Was?“ Es war ein langer Tag für Dev gewesen, aber normalerweise fiel es ihm trotzdem nicht so schwer, seinem Vater gedanklich zu folgen.
„Ich sterbe nicht oder so.“ Sein Vater bleib auf der Haustürschwelle stehen. „Ich möchte mich einfach nur mit dir unterhalten, ohne ständig vom Klingeln oder Vibrieren irgendwelcher elektronsicher Geräte gestört zu werden.“
Trotz der beruhigenden Bemerkung über den Gesundheitszustands seines Vaters konnte sich Dev nicht entspannen. Der Ausdruck auf dem Gesicht seines Dads hätte jedem Sohn mit Augen im Kopf klar gemacht, dass es in dem folgenden Gespräch nicht darum gehen würde, wie er am besten Kalorien reduzieren konnte und dass er seinen Kaffee ab jetzt ohne Zucker trinken würde. Aber worum ging es dann?
Die Haustür fiel hinter ihnen ins Schloss, und sein Vater wartete, bis sie den Vorgarten hinter sich gelassen hatten, bevor er wieder das Wort ergriff. „Es ist lange her, dass deine Mutter gestorben ist.“
Dev nickte. Er hatte gerade das College abgeschlossen, als seine Eltern ihm mitgeteilt hatten, dass seine Mutter eine Krebsdiagnose erhalten hatte. Sie hatten schon eine ganze Weile gewusst, dass es ein aussichtsloser Kampf war, aber nicht gewollt, dass Devs letztes College-Jahr oder seine Noten unter der Sorge um seine Mom litten. Schon damals hatte er bezweifelt, dass es die Reihe an Partys und anderen Eskapaden die verpassten Wochenenden mit seiner Mutter wert gewesen waren, aber mit der Zeit hatten die Schuldgefühle nachgelassen, und er hatte verstanden, dass ebendiese Schuldgefühle auf seiner Mutter gelastet hätten, wäre er an jedem Wochenende nach Hause gekommen, anstatt sein letztes College-Jahr zu genießen. Es hätte ohnehin nichts geändert. Wenigstens war ihm nach der Offenbarung seiner Eltern noch ein wenig Zeit mit seiner Mutter geblieben – wenn auch nicht genug.
„Und du weißt, dass ich in letzter Zeit häufiger im Seniorenzentrum bin.“
Als ihm sein Vater, der sich eigentlich vehement weigerte, sich als alt zu betrachten, erzählt hatte, dass er seit ein paar Monaten ins Seniorenzentrum ging, hatte Dev vermutet, dass es etwas mit der Suche nach weiblicher Gesellschaft zu tun haben könnte. Eine plötzliche Erinnerung aus seinen Teenagerjahren an den ernsten Gesichtsausdruck seines Vaters und sein eigenes Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen, als sie über das Erwachsenwerden im Allgemeinen und Mädchen im Besonderen gesprochen hatten, blitzte in seinen Gedanken auf. Und nun redeten sie wieder über die Bienchen und die Blümchen, nur dass es heute wahrscheinlich mehr um seinen Vater ging als um die Kontrolle der ausufernden Hormone eines Teenagers. Er hätte viel darauf gewettet, dass sein Vater jemanden suchte, mit dem er Zeit verbringen konnte. Vielleicht hatte er sie aber auch schon gefunden. Auf einmal ergab die ganze Sache mit dem Spazierengehen Sinn. Sein Vater hatte eine Freundin. Obwohl er das Dev genauso gut auf dem Sofa im Wohnzimmer hätte erzählen können.
„Sie bieten da jede Menge Aktivitäten und Unternehmungen an. Und man lernt neue Leute kennen.“
Dev gab sein Bestes, nicht zu grinsen, während er den Versuchen seines Vaters lauschte, das Thema anzugehen. Er nickte nur und schwieg.
„Auch wenn es was anderes ist, als damals Dinge mit deiner Mom zu unternehmen.“
Die Freude darüber, dass sein Dad jemanden gefunden hatte, fiel in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausließ.
„Vor ein paar Wochen habe ich mich auf einer dieser Online-Plattformen umgesehen.“
„Online-Plattformen?“ Guter Gott. Hatte sich sein Dad etwa auf einer Dating-Website angemeldet?
„Du weißt schon. So ein Portal, wo man Leute mit ähnlichen Interessen kennenlernen kann.“
Jepp, Dev wusste schon. Vor einiger Zeit hatte ihn sein Freund Pete mit dem Argument, dass Dev viel zu jung sei, um so viel zu arbeiten und sich so wenig mit Frauen zu treffen, dazu überredet, eine dieser Dating-Apps auszuprobieren. Er hatte ein paar nette Frauen kennengelernt, wenn auch keine, die besonders sein Interesse geweckt hätte, und einige eher seltsame Dates waren auch darunter gewesen. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Menschen im Alter seines Vaters mussten sich im World Wide Web vor Betrügern und Leuten in Acht nehmen, die lediglich hinter ihrem Geld her waren und nur auf einen freundlichen älteren Herrn warteten, den sie ausnehmen konnten.
„Ich habe jemanden kennengelernt.“
Damit war es raus. Jetzt war die Frage, wie er unauffällig mehr über die neue Bekanntschaft herausbekam, ohne seinem Vater damit auf die Füße zu treten. „Dann magst du sie also?“
Die Miene seines Dads hellte sich auf, als er nickte. Es war lange her, dass Dev ihn auf diese Weise hatte lächeln sehen. Und plötzlich wurde Dev klar, wie viel hier gerade auf dem Spiel stand, und er betete, dass es sich bei der neuen Freundin tatsächlich um eine freundliche ältere Dame handelte, die selbst nach einem Partner suchte, und nicht um eine Frau, die ihn ausnehmen wollte.
Sein Dad schenkte ihm im Gehen ein Grinsen von der Seite. „Ich glaube, du wirst sie auch mögen.“
„Großartig.“ Im Zweifel zu ihren Gunsten … Warum sollte er sich Sorgen machen, bevor es Anzeichen dafür gab, dass etwas nicht stimmte. „Wann lerne ich sie kennen?“
Sein Vater fuhr sich mit einer Hand in den Nacken. „Ähm … genau da liegt das Problem.“
„Problem?“ War das das erste Anzeichen? Diese Unterhaltung fühlte sich an wie eine Achterbahnfahrt, bei der er niemals wusste, wann die nächste Bemerkung aufs Neue sein Misstrauen auf den Plan rufen würde.
„Also … ich werde eine kleine Reise unternehmen.“
Dev nickte wieder, während er auf die nächste große Offenbarung wartete. Immerhin ging er nicht davon aus, dass sein Vater vorhatte, die kleine Reise allein anzutreten.
„Eine Kreuzfahrt, um genau zu sein.“
„Kreuzfahrt?“ Eine interessante Urlaubswahl für einen Mann, der behauptete, keine Strände zu mögen.
Nun war es sein Dad, der nickte. Als sie die nächste Ecke erreichten, drehte er sich um, um zu Devs Haus zurückzugehen. „Ich hab schon fast alles fertig gepackt. Morgen fliege ich nach Florida. Das Schiff legt am Tag darauf ab.“
„Das ist ja schon ganz bald.“ Dev bemühte sich um Konzentration auf die Fakten. „Wie lange bist du unterwegs?“
„Zwei Wochen.“ Sein Dad sah stur geradeaus, die Lippen fest zusammengepresst, als würde es ihm auf einmal schwerfallen, die richtigen Worte zu finden.
Vielleicht sollte Dev ihm ein wenig helfen. „Und deine neue Bekannte begleitet dich?“
Die Anspannung in den Schultern seines Vaters schien ein wenig nachzulassen. „Um ehrlich zu sein, ja.“
Falls das überhaupt möglich war, schien Dev diese Unterhaltung mit seinem Dad noch merkwürdiger als das Gespräch, das sie geführt hatten, als er auf der Junior High gewesen war.
„Mir ist bewusst, dass wir uns noch nicht sehr lange kennen“, fuhr sein Vater fort, „aber in unserem Alter hat man keine Zeit zu verlieren, wenn man die richtige Partnerin gefunden hat.“
Dev hatte selbst einen Punkt in seinem Leben erreicht, an dem er verstand, dass er keine Zeit verschwenden wollte, aber irgendetwas stimmte nicht. „Wie lange kennst du sie schon?“
„Etwa zwei Wochen.“
„Zwei Wochen?“ Dev klappte hastig den Mund zu, um seine Überraschung zu verbergen. Selbst wenn diese Person real war und keine Betrügerin, waren zwei Wochen nicht lang genug, um gemeinsam in den Sonnenuntergang zu segeln.
„Ich schätze, ohne diese neumodische Art, Videoanrufe zu führen, hätten wir uns nicht so schnell entschieden.“ Wieder fuhr sich sein Vater mit einer Hand in den Nacken. „Ich meine, um deine Mutter habe ich auch viel am Telefon geworben, aber diese Sache mit den Video-Calls ist etwas ganz anderes.“
„Stimmt.“ Was sollte Dev sonst sagen? Zumindest war mit einem Gesicht zum Namen auszuschließen, dass es sich um einen Betrüger handelte. Und welches Recht hatte er, seinem Vater die gute Laune zu vermiesen? Was konnte ein kleiner Urlaub mit einer Frau schaden? Schließlich war es nicht so, als hätte Dev in der Vergangenheit nicht selbst oft recht schnell mit der ein oder anderen Frau angebandelt.
Zurück an der Haustür blieb sein Vater stehen, straffte die Schultern und reckte das Kinn, bevor er tief Luft holte und ein schwarzes Samtschmuckkästchen aus seiner Tasche holte. Mit zitternden Fingern klappte er es auf.
Der funkelnde Edelstein blendete Dev fast. Seine Mutter hätte so etwas nie getragen. Das Schmuckstück musste seinen Vater ein kleines Vermögen gekostet haben.
„Findest du nicht, dass es ein bisschen übertrieben ist, einer Frau, die du erst seit ein paar Wochen kennst, so einen Ring zu schenken?
„Diese Frau ist etwas Besonderes. Sie verdient das Beste.“
Ein Punkt für die Goldgräberinnen-Theorie.
„Außerdem hat diese Reise“, Raymond Miller räusperte sich, „äh … ein Motto.“
„Du meinst so was wie ‚Die wilden Siebziger‘ oder ‚Der große Gatsby‘?“
Sein Vater klappte den Deckel der kleinen Schatulle zu und steckte sie zurück in seine Tasche. „Es ist eine Hochzeitskreuzfahrt.“
„Was du wirklich brauchst, ist ein Mann.“
Wenn Angie Cannon jedes Mal, wenn ihre Freundin Pam den Satz sagte, einen Dollar bekommen hätte, wäre sie inzwischen in der Lage gewesen, sich sämtliche Häuser ihres Straßenzugs zu leisten. „Ich weiß, dass du und Gil so glücklich seid wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser, aber ich löse meine Probleme lieber selbst. Ein Mann ist nicht die Antwort.“
„Könnte er aber sein, wenn du den richtigen findest.“ Wenn es jemanden gab, den man auf dem Gebiet als Expertin hätte bezeichnen können, dann wäre das Pam gewesen. Die große, attraktive und immer farbenfroh angezogene rothaarige Schönheit hatte vor zwei Jahren ihre erste große Liebe, die gleichzeitig ihr erster Ehemann gewesen war, zum zweiten Mal geheiratet. Dazwischen hatte sie drei weitere Ehemänner und einen Verlobten gehabt, bevor sie schließlich ihr Glück fand.
„Was ich brauche, ist ein Mitbewohner. Das würde zumindest gegen die überraschenden Kosten helfen, die ständig anfallen.“ Nachdem ihre Spülmaschine im letzten kalten Winter vollkommen unerwartet den Geist aufgegeben hatte, hatte sie lange das Geschirr per Hand gespült, bis sie bereit gewesen war, den Preis für eine neue, sehr leise Maschine zu bezahlen. Damit zu warten, bis sie wieder genug Geld auf dem Konto hatte, um den Boiler zu ersetzen, war allerdings keine Option. Sie würde niemals ein Fan von kalten Duschen werden.
„Zu schade, dass ich keine Schwester habe. Dann könnte ich es wie die Ummarinos nebenan machen.“
Pam zuckte mit den Schultern. „Du und deine Mom scheinen ziemlich viel Zeit miteinander zu verbringen, vor allem seit dein Dad gestorben ist. Ihr kommt besser miteinander klar als jedes andere Mutter-Tochter-Gespann, das ich kenne.“
„Was wirklich nicht schwer ist. Mom war immer schon auch meine Freundin.“
„Ich weiß. Und normalerweise würde ich niemals vorschlagen, dass deine Mutter bei dir einzieht, weil das deinem Lebensstil nicht zuträglich wäre; aber seit ich dich kenne, scheint das Aufregendste an diesem Lebensstil zu sein, lange aufzubleiben, um dir mit einer riesigen Schüssel gebuttertem Popcorn einen deiner Lieblingsfilme anzusehen. Würde deine Mom hier leben, hättest du zumindest jemanden, mit dem du dich unterhalten kannst.“
Angie schüttelte den Kopf. „Das habe ich ihr schon mal angeboten, kurz nachdem Dad gestorben war. Sie wollte aber nichts davon hören.“ Abgesehen davon – was sie Pam jedoch garantiert nicht auf die Nase binden würde – klangen ihre Mutter und sie wie eine Schallplatte mit Sprung, wenn sie in eine Diskussion darüber gerieten, dass Angie mehr ausgehen, sich häufiger mit Leuten treffen, weniger arbeiten und überhaupt nicht so tun sollte, als wäre sie mit ihrem Job verheiratet. Obwohl sie selbst immer überzeugt gewesen war, dass ein Aufstieg auf der Karriereleiter wichtig war, um sich fürs Alter abzusichern. Sie hatte einfach nicht daran gedacht, wie schnell die Jahre vergehen würden oder wie viel schwieriger es mit jedem dieser Jahre werden würde, den perfekten Mann zu finden – falls es den überhaupt gab.
Die Klingel läutete im selben Moment, in dem der Türknauf gedreht und die schwere Haustür aus Holz aufgerissen wurde.
„Ich habe mit Onkel Tony geredet. Er ist bereit, dir den Familienrabatt zu geben. Es gibt wahrscheinlich nur einen winzigen Haken.“ Mina blieb abrupt stehen. Sie war Angies Nachbarin und die älteste der drei Schwestern, die das Haus nebenan gekauft hatten, das früher ihrer Freundin Michelle gehört hatte. „Oh, tut mir leid. Ich hätte nicht einfach reinplatzen sollen.“
„Kein Problem, ich wusste ja, dass du zurückkommen würdest.“ Angie tat die Verlegenheit ihrer Nachbarin mit einer wegwerfenden Geste ab und deutete auf Pam. „Du erinnerst dich vielleicht an meine Freundin Pam.“
„Klar.“ Mina streckte die Hand aus. „Dein Mann hat Angie geholfen, die Weihnachtsbeleuchtung anzubringen.“
Pam nickte grinsend. „Nur eine Sache, in der er gut ist.“
Angie hinderte sich in letzter Sekunde daran, den Kopf zu schütteln, verdrehte aber dennoch kurz die Augen.
Mina auf der anderen Seite schien Pams Anspielung kein bisschen aus dem Konzept zu bringen. „Was die anderen Dinge angeht, kann ich mir kein Urteil erlauben; aber selbst mein Vater war mit der Arbeit deines Mannes zufrieden. Und glaub mir, wenn ich sage, dass Vito Ummarino nicht gerade mit Komplimenten um sich schmeißt.“ Mina warf in einer übertriebenen Geste die Hand nach oben. „Außer natürlich, man kommt aus Italien, dann kann man absolut nichts falsch machen.“
„Wo wir gerade davon sprechen“, Pam hielt den riesigen Hummerkochtopf hoch und ging damit an Angie und ihrer Nachbarin vorbei, „ich sollte langsam zusehen, dass ich loskomme. Als ich zu Hause weg bin, haben mein Mann und seine Kumpel schon Hummerrennen veranstaltet. Wahrscheinlich sind sie inzwischen auf halbem Weg nach Nebraska.“
„Lasst es euch schmecken.“ Angie umarmte ihre Freundin zum Abschied und schloss leise die Tür hinter ihr.
Mina hielt ihr ein Blatt Papier hin. „Das Schöne an einer großen italienischen Familie ist, dass es immer jemanden gibt, der Dinge reparieren kann. Leider hängen andererseits auch dann immer Verwandte bei einem rum, wenn nichts kaputt ist.“
„Vielen Dank. Ich habe mich so darauf konzentriert, das Haus vorzeitig abzuzahlen, dass ich nicht genug Geld für mehrere aufeinanderfolgende Pannen zurückgelegt habe.“
„Hm.“ Mina biss sich auf die Unterlippe. „Ich sollte dich allerdings warnen.“
Angie sah von dem Blatt Papier in ihrer Hand auf.
„Onkel Vito ist ein sehr guter Klempner. Für ihn ist Angela ein italienischer Name, wodurch du für seine Begriffe zur Familie zählst.“
„Ich habe das Gefühl, das gleich ein ‚Aber‘ folgt.“
„Eher eine kleine Vorwarnung. Mein Cousin Giovanni ist Single und glücklich damit, aber mein Onkel Vito glaubt nicht an so was wie glückliche Singles. Deswegen wird er vielleicht einen kleinen … Verkupplungsversuch starten.“
„Wie klein?“
Mina zuckte mit den Schultern. „Könnte so ziemlich alles sein von meinen Cousin, den Buchhalter, dazu überreden, seinem Vater bei der Installation des Boilers zu helfen, bis hin zu einer Einladung zum Sonntagsessen.“
„Das klingt doch gar nicht so schlimm.“ Trotzdem machte sie Minas Gesichtsausdruck nervös.
„Erinnerst du dich an den Film My Big Fat Greek Wedding?“
„Tut das nicht so ziemlich jeder?“
„Na ja“, Mina zuckte wieder mit den Schultern, „das ist quasi meine Familie, nur dass wir Italiener sind. Wenn es dir nichts ausmacht, dass sie es sich ab und zu in deinem Leben bequem machen, und du die Tatsache ignorieren kannst, dass alle neugierig sind und ständig auf dich einreden werden. Der Rabatt sollte es auf jeden Fall wert sein.“
„Klingt nach einem Plan. Danke noch mal.“
„Jederzeit gerne. Und falls du später noch nichts vorhast – meine Mom bringt überbackene Ziti vorbei. Offensichtlich ist sie der Ansicht, dass sie keiner von uns dreien das Kochen beigebracht hat; und sie macht immer genug, um ein ganzes Marine-Bataillon zu versorgen. Wir hätten auf jeden Fall nichts dagegen, die Kalorien mit jemandem zu teilen.“
Angie kicherte. Sie bezweifelte, dass die drei Schwestern auch nur den blassesten Schimmer hatten, was italienisches Essen den Hüften einer Frau über dreißig antun konnte. Andererseits könnte, abhängig vom Ergebnis von Onkel Vitos und Cousin Giovannis Arbeit, ein wenig Hausmannskost zum Abendessen vielleicht hilfreich sein. „Ich gebe dir Bescheid.“
Mina verschwand mit einem Winken durch die Tür und überquerte im Laufschritt den Rasen, als der Klingelton zu hören war, den Angie in ihren Kontakten ihrer Mutter zugeordnet hatte.
„Hi Mom.“
„Hey mein Schatz. Wie ist dein Tag?“
„Der Boiler hat den Geist aufgegeben.“
„Oh nein. Immerhin bist du jetzt damit durch.“
„Damit durch?“
„Es heißt, dass Unglück immer im Dreierpack auftritt. Erst deine Spülmaschine, dann der Ersatzreifen und jetzt der Boiler. Damit müsste deine Pechsträhne vorbei sein. Den Rest des Jahres sollte es keine Probleme mehr geben.“
Natürlich musste ihre Mutter sie an den Vorfall mit dem Auto erinnern. Angie hatte neulich einen Reifen ihres Wagens platt wie einen Pfannkuchen vorgefunden und bald darauf feststellen müssen, dass der Ersatzreifen keine Hilfe darstellte. Beide Reifen hatten ersetzt werden müssen. Hoffentlich behielt ihre Mom recht damit, dass sich Angie nun wenigstens den Rest des Jahres keine Sorgen mehr um irgendwas machen musste.
„Und was ist bei dir so los?“
„Na ja“, ihre Mutter klang jetzt fröhlicher, „ich habe mich für eine Veränderung entschieden.“
Angie war sich nicht sicher, ob ihr gefallen würde, was als Nächstes kam. „Ach ja? Was für eine Veränderung?“
„Ich mache Urlaub.“
Erleichterung durchströmte sie. So lange Angie denken konnte, hielt jeder Julia Cannon für eine liebenswerte und warmherzige Frau. Für Angie war ihre Mutter ihre beste Freundin, ihre Cheerleaderin Nummer eins und immer die Schulter gewesen, an der sie sich ausweinen konnte, wenn das Leben mal wieder nicht ganz fair schien. Alles, was am Leben gut war und Spaß machte, hatte Angie von ihrer Mutter gelernt. Abgesehen davon, dass Julia seit dem Tod von Angies Vater in gewisser Weise zur Stubenhockerin geworden war. In den letzten Wochen hatte sie sich merkwürdig verhalten. Sie war weniger gesprächig und beschäftigter als sonst gewesen. Nicht, dass das schlimm wäre. Angie wollte, dass ihre Mutter ein erfülltes Leben hatte, dennoch konnte sie einfach nicht anders, als sich immer ein wenig Sorgen um sie zu machen. Von den wenigen engen Freundinnen, die ihre Mutter hatte, war nur eine unverheiratet und konnte sie möglicherweise in den Urlaub begleiten.
„Wie schön. Und mit wem verreist du? Mit Mabel aus deiner Canasta-Runde?“
„Nein.“ Als ihre Mom daraufhin einige Sekunden schwieg, kehrte das nervöse Gefühl in Angies Magen zurück. „Ich mache eine Kreuzfahrt.“
„Allein?“
Ihre Mom räusperte sich. „Nein.“
Angies ungutes Gefühl nahm zu, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter den Rest ausspuckte.
„Ich werde heiraten.“
* * *
Eine weitere Stunde an seinem Schreibtisch, und Devon Miller war überzeugt, dass er dauerhaft schielen würde.
„Wenn du eine Frau und eine Familie hättest, würdest du nicht so viel arbeiten.“ Sein Dad, der in der Tür stand, stieß ein leises Seufzen aus. „Im Ernst, es ist lange nach Feierabend. Du solltest wirklich Schluss machen.“
Für Dev war Raymond Miller der perfekte Vater gewesen. Trotz seiner Unternehmenskarriere, bei der er stets unter Druck gestanden hatte, war er bei jeder Sportveranstaltung und jeder Schulaufführung dabei gewesen, hatte täglich seine Hausaufgaben kontrolliert, an sämtlichen Vater-Sohn-Camping- und Pfadfinder- Ausflügen und vielen anderen Aktivitäten nach der Schule teilgenommen. Er hatte Devon all die Unterstützung gegeben, die er brauchte, um das College und seinen MBA zu schaffen. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater hatten dafür gesorgt, dass seine Kindheitserinnerungen allesamt an verdammt idyllisch grenzten. Leider war Raymond Miller als Rentner ein kleiner Nörgler geworden.
„Schön dich zu sehen, Pa.“ Dev löste die Finger von der Mouse und klappte seinen Laptop zu. Die Uhr an der Wand verriet ihm, dass es halb acht und damit tatsächlich Zeit war, den Arbeitstag zu beenden. Sonst würde er wirklich anfangen zu schielen. „Du bist gerade noch pünktlich gekommen, um ein Steak zum Abendessen zu braten, das die Bezeichnung verdient und noch kein Mitternachtssnack ist.“
„Ehrlich gesagt habe ich schon gegessen.“
Dev warf einen weiteren Blick auf die Uhr, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht vertan hatte. Sein Vater hatte schon immer eher spät zu Abend gegessen.
„Lass uns eine Runde spazieren gehen.“
„Spazieren gehen?“ Er und sein Vater unternahmen viel zusammen, aber Abendspaziergänge gehörten nicht dazu.
Dev stieß sich vom Schreibtisch ab und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sein Verstand unternahm einen halbherzigen Versuch, sämtliche Möglichkeiten durchzugehen, warum sein Vater so ernst aussah und ein Spaziergang als Ablenkung erforderlich war, um Dev zu erzählen, worum es ging.
„Mach dir keine Sorgen.“ Kopfschüttelnd ging ihm sein Dad durch den Flur voraus.
„Was?“ Es war ein langer Tag für Dev gewesen, aber normalerweise fiel es ihm trotzdem nicht so schwer, seinem Vater gedanklich zu folgen.
„Ich sterbe nicht oder so.“ Sein Vater bleib auf der Haustürschwelle stehen. „Ich möchte mich einfach nur mit dir unterhalten, ohne ständig vom Klingeln oder Vibrieren irgendwelcher elektronsicher Geräte gestört zu werden.“
Trotz der beruhigenden Bemerkung über den Gesundheitszustands seines Vaters konnte sich Dev nicht entspannen. Der Ausdruck auf dem Gesicht seines Dads hätte jedem Sohn mit Augen im Kopf klar gemacht, dass es in dem folgenden Gespräch nicht darum gehen würde, wie er am besten Kalorien reduzieren konnte und dass er seinen Kaffee ab jetzt ohne Zucker trinken würde. Aber worum ging es dann?
Die Haustür fiel hinter ihnen ins Schloss, und sein Vater wartete, bis sie den Vorgarten hinter sich gelassen hatten, bevor er wieder das Wort ergriff. „Es ist lange her, dass deine Mutter gestorben ist.“
Dev nickte. Er hatte gerade das College abgeschlossen, als seine Eltern ihm mitgeteilt hatten, dass seine Mutter eine Krebsdiagnose erhalten hatte. Sie hatten schon eine ganze Weile gewusst, dass es ein aussichtsloser Kampf war, aber nicht gewollt, dass Devs letztes College-Jahr oder seine Noten unter der Sorge um seine Mom litten. Schon damals hatte er bezweifelt, dass es die Reihe an Partys und anderen Eskapaden die verpassten Wochenenden mit seiner Mutter wert gewesen waren, aber mit der Zeit hatten die Schuldgefühle nachgelassen, und er hatte verstanden, dass ebendiese Schuldgefühle auf seiner Mutter gelastet hätten, wäre er an jedem Wochenende nach Hause gekommen, anstatt sein letztes College-Jahr zu genießen. Es hätte ohnehin nichts geändert. Wenigstens war ihm nach der Offenbarung seiner Eltern noch ein wenig Zeit mit seiner Mutter geblieben – wenn auch nicht genug.
„Und du weißt, dass ich in letzter Zeit häufiger im Seniorenzentrum bin.“
Als ihm sein Vater, der sich eigentlich vehement weigerte, sich als alt zu betrachten, erzählt hatte, dass er seit ein paar Monaten ins Seniorenzentrum ging, hatte Dev vermutet, dass es etwas mit der Suche nach weiblicher Gesellschaft zu tun haben könnte. Eine plötzliche Erinnerung aus seinen Teenagerjahren an den ernsten Gesichtsausdruck seines Vaters und sein eigenes Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen, als sie über das Erwachsenwerden im Allgemeinen und Mädchen im Besonderen gesprochen hatten, blitzte in seinen Gedanken auf. Und nun redeten sie wieder über die Bienchen und die Blümchen, nur dass es heute wahrscheinlich mehr um seinen Vater ging als um die Kontrolle der ausufernden Hormone eines Teenagers. Er hätte viel darauf gewettet, dass sein Vater jemanden suchte, mit dem er Zeit verbringen konnte. Vielleicht hatte er sie aber auch schon gefunden. Auf einmal ergab die ganze Sache mit dem Spazierengehen Sinn. Sein Vater hatte eine Freundin. Obwohl er das Dev genauso gut auf dem Sofa im Wohnzimmer hätte erzählen können.
„Sie bieten da jede Menge Aktivitäten und Unternehmungen an. Und man lernt neue Leute kennen.“
Dev gab sein Bestes, nicht zu grinsen, während er den Versuchen seines Vaters lauschte, das Thema anzugehen. Er nickte nur und schwieg.
„Auch wenn es was anderes ist, als damals Dinge mit deiner Mom zu unternehmen.“
Die Freude darüber, dass sein Dad jemanden gefunden hatte, fiel in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausließ.
„Vor ein paar Wochen habe ich mich auf einer dieser Online-Plattformen umgesehen.“
„Online-Plattformen?“ Guter Gott. Hatte sich sein Dad etwa auf einer Dating-Website angemeldet?
„Du weißt schon. So ein Portal, wo man Leute mit ähnlichen Interessen kennenlernen kann.“
Jepp, Dev wusste schon. Vor einiger Zeit hatte ihn sein Freund Pete mit dem Argument, dass Dev viel zu jung sei, um so viel zu arbeiten und sich so wenig mit Frauen zu treffen, dazu überredet, eine dieser Dating-Apps auszuprobieren. Er hatte ein paar nette Frauen kennengelernt, wenn auch keine, die besonders sein Interesse geweckt hätte, und einige eher seltsame Dates waren auch darunter gewesen. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Menschen im Alter seines Vaters mussten sich im World Wide Web vor Betrügern und Leuten in Acht nehmen, die lediglich hinter ihrem Geld her waren und nur auf einen freundlichen älteren Herrn warteten, den sie ausnehmen konnten.
„Ich habe jemanden kennengelernt.“
Damit war es raus. Jetzt war die Frage, wie er unauffällig mehr über die neue Bekanntschaft herausbekam, ohne seinem Vater damit auf die Füße zu treten. „Dann magst du sie also?“
Die Miene seines Dads hellte sich auf, als er nickte. Es war lange her, dass Dev ihn auf diese Weise hatte lächeln sehen. Und plötzlich wurde Dev klar, wie viel hier gerade auf dem Spiel stand, und er betete, dass es sich bei der neuen Freundin tatsächlich um eine freundliche ältere Dame handelte, die selbst nach einem Partner suchte, und nicht um eine Frau, die ihn ausnehmen wollte.
Sein Dad schenkte ihm im Gehen ein Grinsen von der Seite. „Ich glaube, du wirst sie auch mögen.“
„Großartig.“ Im Zweifel zu ihren Gunsten … Warum sollte er sich Sorgen machen, bevor es Anzeichen dafür gab, dass etwas nicht stimmte. „Wann lerne ich sie kennen?“
Sein Vater fuhr sich mit einer Hand in den Nacken. „Ähm … genau da liegt das Problem.“
„Problem?“ War das das erste Anzeichen? Diese Unterhaltung fühlte sich an wie eine Achterbahnfahrt, bei der er niemals wusste, wann die nächste Bemerkung aufs Neue sein Misstrauen auf den Plan rufen würde.
„Also … ich werde eine kleine Reise unternehmen.“
Dev nickte wieder, während er auf die nächste große Offenbarung wartete. Immerhin ging er nicht davon aus, dass sein Vater vorhatte, die kleine Reise allein anzutreten.
„Eine Kreuzfahrt, um genau zu sein.“
„Kreuzfahrt?“ Eine interessante Urlaubswahl für einen Mann, der behauptete, keine Strände zu mögen.
Nun war es sein Dad, der nickte. Als sie die nächste Ecke erreichten, drehte er sich um, um zu Devs Haus zurückzugehen. „Ich hab schon fast alles fertig gepackt. Morgen fliege ich nach Florida. Das Schiff legt am Tag darauf ab.“
„Das ist ja schon ganz bald.“ Dev bemühte sich um Konzentration auf die Fakten. „Wie lange bist du unterwegs?“
„Zwei Wochen.“ Sein Dad sah stur geradeaus, die Lippen fest zusammengepresst, als würde es ihm auf einmal schwerfallen, die richtigen Worte zu finden.
Vielleicht sollte Dev ihm ein wenig helfen. „Und deine neue Bekannte begleitet dich?“
Die Anspannung in den Schultern seines Vaters schien ein wenig nachzulassen. „Um ehrlich zu sein, ja.“
Falls das überhaupt möglich war, schien Dev diese Unterhaltung mit seinem Dad noch merkwürdiger als das Gespräch, das sie geführt hatten, als er auf der Junior High gewesen war.
„Mir ist bewusst, dass wir uns noch nicht sehr lange kennen“, fuhr sein Vater fort, „aber in unserem Alter hat man keine Zeit zu verlieren, wenn man die richtige Partnerin gefunden hat.“
Dev hatte selbst einen Punkt in seinem Leben erreicht, an dem er verstand, dass er keine Zeit verschwenden wollte, aber irgendetwas stimmte nicht. „Wie lange kennst du sie schon?“
„Etwa zwei Wochen.“
„Zwei Wochen?“ Dev klappte hastig den Mund zu, um seine Überraschung zu verbergen. Selbst wenn diese Person real war und keine Betrügerin, waren zwei Wochen nicht lang genug, um gemeinsam in den Sonnenuntergang zu segeln.
„Ich schätze, ohne diese neumodische Art, Videoanrufe zu führen, hätten wir uns nicht so schnell entschieden.“ Wieder fuhr sich sein Vater mit einer Hand in den Nacken. „Ich meine, um deine Mutter habe ich auch viel am Telefon geworben, aber diese Sache mit den Video-Calls ist etwas ganz anderes.“
„Stimmt.“ Was sollte Dev sonst sagen? Zumindest war mit einem Gesicht zum Namen auszuschließen, dass es sich um einen Betrüger handelte. Und welches Recht hatte er, seinem Vater die gute Laune zu vermiesen? Was konnte ein kleiner Urlaub mit einer Frau schaden? Schließlich war es nicht so, als hätte Dev in der Vergangenheit nicht selbst oft recht schnell mit der ein oder anderen Frau angebandelt.
Zurück an der Haustür blieb sein Vater stehen, straffte die Schultern und reckte das Kinn, bevor er tief Luft holte und ein schwarzes Samtschmuckkästchen aus seiner Tasche holte. Mit zitternden Fingern klappte er es auf.
Der funkelnde Edelstein blendete Dev fast. Seine Mutter hätte so etwas nie getragen. Das Schmuckstück musste seinen Vater ein kleines Vermögen gekostet haben.
„Findest du nicht, dass es ein bisschen übertrieben ist, einer Frau, die du erst seit ein paar Wochen kennst, so einen Ring zu schenken?
„Diese Frau ist etwas Besonderes. Sie verdient das Beste.“
Ein Punkt für die Goldgräberinnen-Theorie.
„Außerdem hat diese Reise“, Raymond Miller räusperte sich, „äh … ein Motto.“
„Du meinst so was wie ‚Die wilden Siebziger‘ oder ‚Der große Gatsby‘?“
Sein Vater klappte den Deckel der kleinen Schatulle zu und steckte sie zurück in seine Tasche. „Es ist eine Hochzeitskreuzfahrt.“