Flitterwochen allein
KAPITEL 1
Irgendetwas stimmte nicht. Michelle Bradford starrte ihr Handy an. Für eine Fremde hätte ihre Freundin aus Kindertagen vollkommen normal geklungen, aber Michelle konnte die leichte Anspannung in Beths Stimme hören, ebenso wie ihre abgehackte Atmung.
Ein Knoten bildete sich in Michelles Magen. Beth hatte sich in den letzten Wochen ein wenig … merkwürdig benommen. Gestern während der letzten Anprobe der Brautjungfernkleider war sie in Tränen ausgebrochen und aus dem Raum gestürmt. Danach hatte sie eine Entschuldigung gemurmelt, dass sie hormonell bedingt jeden Monat ein paar emotionale Tage habe und sie immer nur Brautjungfer – oder in diesem Fall Trauzeugin – sei und niemals die Braut.
Michelle hätte wissen müssen, dass Beths Reaktion durch etwas Ernsteres ausgelöst worden war, aber sie war so in ihre Hochzeitsvorbereitungen vertieft gewesen, dass sie ihrer besten Freundin nicht die Aufmerksamkeit schenken konnte, die sie verdient hätte.
Nun war Beth auf dem Weg zu ihr, und Michelle versuchte, die schrecklichen Szenarien zu verdrängen, die ihr in den Sinn kamen. Beth war gefeuert worden. Oder in eine andere Stadt versetzt worden. Sie war krank. Brauchte eine Niere. Oder, oh Gott, vielleicht hatte sie Krebs. Zu dem Zeitpunkt, als es an der Tür klingelte, hatte ihre Freundin mit allen Arten von Katastrophen zu kämpfen, abgesehen von einem Tsunami.
„Fang ruhig ohne mich mit dem Abendessen an“, rief Michelle ihrer jüngeren Schwester auf dem Weg durch den Flur zu.
Als sie die Tür aufriss, erschrak sie darüber, ihren Verlobten und ihre beste Freundin zu sehen. „Oh, Steven. Ich hab nicht damit gerechnet, dass deine Last-Minute-Geschäftsreise schon zu Ende ist. Warum gehst du nicht zu Corrie in die Küche und unterhältst dich mit ihr? Sie isst gerade zu Abend. Auf dem Herd steht noch Stroganoff. Ich geh nur kurz mit Beth ins Wohnzimmer.“
„Eigentlich …“, Steven trat um Beth herum, „bin ich absichtlich mit Beth gekommen. Wir müssen beide mit dir reden.“
„Oh. Alles klar.“ Nun mischte sich Verwirrung unter die Sorge, die bereits in ihrem Bauch brodelte. Sie gab Beth einen Kuss auf die Wange und Steven einen auf die Lippen.
Nachdem sie den beiden aus dem Flur ins Wohnzimmer gefolgt war, gingen Beth und Steven einen Augenblick ziellos im Raum umher, ehe sie sich gegenüber von Michelle auf das Sofa setzten.
„Michelle …“, setzte Steven an.
„Lass mich es tun“, unterbrach Beth.
„Nein. Ich glaube, es ist einfacher, wenn ich es erkläre.“
„Aber es ist meine Schuld.“
„Es geht hier nicht um Schuld.“ Steven bewegte seine Hand, als wollte er Beth berühren, zog sie dann aber eilig wieder zurück. „Bitte.“
Mittlerweile noch verwirrter beobachtete Michelle die Menschen beim Diskutieren, denen sie am allernächsten stand, und fragte sich, an welchem Punkt sie in die Unterhaltung involviert werden würde. „Also irgendjemand sollte mir nun irgendwas erklären, weil keiner von euch beiden bisher etwas Sinnvolles von sich gegeben hat.“
Mit gesenktem Blick nickte Beth, und Steven atmete tief durch. „Wir alle sind schon seit Langem befreundet.“
„Ja. In der Tat“, pflichtete Michelle ihm bei.
„Bitte.“ Steven hob eine Hand. „Lass mich zu Ende sprechen.“
Michelle rutschte an die Sofakante und fragte sich, in welches schreckliche Szenario sowohl Beth als auch Steven verwickelt sein konnten.
„Wie gesagt“, fuhr Steven fort, „habe ich dich und Beth zur gleichen Zeit kennengelernt. Wir drei sind genauso oft zusammen ausgegangen wie wir zwei alleine. In den letzten paar Jahren habe ich mit Beth mehr Banketts und Benefizveranstaltungen besucht als mit dir, weil sich Corries Freizeitaktivitäten oft mit meinen gesellschaftlichen Verpflichtungen überschnitten haben.“
Michelle wandte sich ihrer langjährigen Freundin zu. „Und ich kann dir nicht genug dafür danken, dass du so oft kurzfristig für mich eingesprungen bist.“
Beth nickte schwach.
„Nun.“ Stevens Blick huschte für einen Augenblick zum Kamin, ehe er wieder Michelle anschaute. „Du und ich sind seit fast fünf Jahren verlobt. Die Hochzeit wurde so oft verschoben – ich glaube nicht, dass irgendjemand in diesem Ort noch damit rechnet, dass wir heiraten. Und offen gestanden frage ich mich schon seit einiger Zeit, ob die Tatsache, dass du deine kleine Schwester großziehen musstest, nur eine Ausrede war, weil du mich gar nicht wirklich heiraten willst.“
„Das stimmt nicht.“ Michelle sprang auf und ging auf Steven zu, doch er winkte sie auf ihren Platz zurück.
„Bitte. Setz dich.“ Er wartete einen quälend langen Augenblick, während sie wieder Platz nahm. „Ich sage ja nur, dass du mir wahrscheinlich zustimmen wirst, wenn wir einen Moment innehalten und uns anschauen, wie die Dinge in letzter Zeit gelaufen sind. Nach all den Jahren sind wir wahrscheinlich mehr in die Idee verliebt, zu heiraten, als ineinander. Zumindest nicht so, wie zwei Menschen füreinander empfinden sollten, die sich das Versprechen geben, für immer zusammen zu bleiben.“
Michelle wollte schreien „Du täuschst dich“, aber ihr Mund schien nicht zu funktionieren. Natürlich wollte sie Steven heiraten. Wer würde nicht einen Mann heiraten wollen, der so gütig, großzügig und gefestigt war wie er? Während sie darauf wartete, dass Steven fortfuhr, beobachtete sie, wie Beth die Finger ineinander wand und ihrem Blick auswich. Nichts von alledem ergab Sinn.
Und dann traf es sie wie der Schlag. Steven war im Begriff, die Hochzeit abzublasen, und hatte Beth mitgebracht, damit sie ihr beistehen würde. Eine Rolle, die Beth seit ihrer Kindheit wunderbar ausfüllte. Sie war ihre Rettung gewesen, als Michelles Eltern plötzlich gestorben waren und sie mit einem Mal für ein zehnjähriges Mädchen verantwortlich gewesen war.
„Du willst mich nicht heiraten“, flüsterte sie. Der Knoten in ihrem Magen wurde fester und zerbarst schließlich, sodass sie sich krümmen musste. All die Zeit, das Geld, das Kleid – die Gäste.
„Liebling … Michelle, ich weiß, es ist jetzt gerade schwer, es zu akzeptieren, aber mit der Zeit wirst du sehen, dass alles, was ich sage, stimmt, das glaube ich ganz ehrlich. Du willst mich nicht wirklich heiraten.“
Michelle hob den Kopf, um den Mann anzuschauen, der nun ihr Ex-Verlobter war. Doch ihr Blick fiel auf seine Hand, die fest mit Beths Hand verschlungen war.
Beth hatte aufgehört, ihre Finger ineinander zu winden, und biss sich nun auf die Unterlippe.
Michelle setzte sich gerade hin und betrachtete ihre beste Freundin eingehend. Das konnte nicht wahr sein.
Als Beth aufschaute und nickte, drohte Michelles Mittagessen, wieder hochzukommen.
„Du?“, brachte sie hervor.
Diesmal bedachte Steven sie mit einem stummen Nicken. „Morgen Früh nehmen wir den ersten Flug nach Vegas. Beth und ich werden heiraten.“
***
Seit wann existierten Hochzeitsreisen für eine Person?
„Es ergibt aber Sinn.“ Angie Cannon, Single, attraktiv, brünett, Mitte dreißig und seit drei Jahren Michelles Nachbarin, stand mit in die Hüften gestemmten Händen da und starrte Michelle an, als wäre sie schwer von Begriff.
„Ich …“ Ja, was eigentlich? Ich würde mir dumm dabei vorkommen? Ob nun am Meer oder zu Hause in Bluffview – dass sie sich dumm vorkam, würde sich so schnell nicht ändern. Was sollte sie also erwidern? „Ich kann Corrie nicht alleine lassen.“
„Ich bleibe bei ihr.“ Ohne zu zögern, bot Angie an, für Michelles ehemals beste Freundin einzuspringen.
Michelle schüttelte den Kopf. Der ursprüngliche Plan war gewesen, dass Beth bei Michelles Schwester Corrie blieb, während Michelle und Steven ihre Kreuzfahrt antraten. Aber da nun Beth und Steven auf Hochzeitsreise in Vegas waren, hatte Michelle nicht nur ihren Verlobten, sondern auch ihre beste Freundin und Anstandsdame für Corrie verloren. „Das kann ich nicht von dir verlangen.“
„Das hast du ja auch nicht, ich biete es dir trotzdem an. Also pack deinen Koffer, und mach dir einen schönen Urlaub.“
Einen schönen Urlaub? Michelle hätte sich am liebsten die Haare ausgerupft und wäre schreiend aus dem Zimmer gelaufen. Sie war beinahe erleichtert, als es an der Tür klingelte. Beinahe. Wenn sie Glück hatte, würde sie ein paar Zeugen Jehovas auf ihrer Veranda vorfinden, aber bei dem Pech, das ihr in letzter Zeit widerfahren war, war es wahrscheinlicher, dass es irgendeine Nervensäge auf sie abgesehen hatte.
Ohne sich die Mühe zu machen, ein Lächeln aufzusetzen, schwang sie die Tür auf und funkelte die Person, wer auch immer sie sein mochte, wütend an.
„Als du dich krankgemeldet hast, wusste ich, dass irgendwas nicht stimmt. Und dann hab ich die Neuigkeiten erfahren. Ich hab versucht, dich anzurufen.“ Pam Stuart aus dem Büro kam hereingestürmt wie ein Wirbelwind. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Dieser Betrüger.“
Seit sich im Ort wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, dass die arme Michelle sitzen gelassen worden war, wurde sie mit Mitleidsbekundungen überhäuft. Schließlich hatte sie ihren Festnetzanschluss ausgestöpselt und ihr Handy abgeschaltet. Bisher waren nur ihre Nachbarin und ihre Arbeitskollegin mutig genug gewesen – oder vielleicht waren sie auch die Einzigen, denen es nicht egal war –, über ihre Türschwelle zu treten.
„Pam, das ist meine Nachbarin Angie.“ Michelle deutete auf die Frau, die immer noch mitten im Wohnzimmer stand und die Fäuste in die Hüften gestemmt hatte. „Pam und ich arbeiten zusammen bei der Zeitung.“
Die beiden Frauen tauschten ein kurzes Lächeln, ebenso wie ein paar Höflichkeitsfloskeln.
„Kann ich dir was zu trinken anbieten?“, fragte Michelle.
Pam schüttelte den Kopf. „Nein danke.“
„Also gut.“ Angie nahm auf dem Sofa Platz und wandte sich Michelle zu. „Ich wiederhole. Du solltest es alleine durchziehen.“
„Was?“, fragte Pam, die sich nun langsam auf den nächstbesten Stuhl sinken ließ.
„Die Kreuzfahrt“, antwortete Angie, aber löste ihren Blick nicht von Michelle.
„Die Honeymoon-Kreuzfahrt“, korrigierte Michelle.
Ein erfreutes Lächeln machte sich auf Pams Gesicht breit. „Oh, ich finde, das ist eine ganz wunderbare Idee.“
Hatten alle im Raum außer ihr den Verstand verloren? Wie konnte sie diesen Menschen nur begreiflich machen, dass sie ihre Hochzeitsreise nicht allein antreten wollte?
Pam sprang auf. „Denk doch mal drüber nach. Du willst nicht hier sitzen und Trübsal blasen, wenn das glückliche Paar zurückkommt.“
Angie sog zischend die Luft ein und verzog das Gesicht, als hätten Pams Worte ihr körperliche Schmerzen bereitet.
Als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte, zuckte Pam zusammen. „Tut mir leid, Schätzchen. Du weißt, ich hab’s nicht so gemeint, wie es klang.“
„Ja. Schon in Ordnung.“ Aber es war nicht in Ordnung. Es würde niemals in Ordnung sein. Ihre perfekt durchgeplante Hochzeit und das „Wenn sie nicht gestorben sind …“ waren mit einem Mal geplatzt. Es hatte den ganzen Tag gedauert, alles abzusagen. Den Kuchen, die Location, den Fotografen, das Catering, die Musiker. Zum Glück hatte Angie die Aufgabe übernommen, allen Gästen Bescheid zu geben.
Das Einzige, was noch abgesagt werden musste, war die Hochzeitsreise. Die Kreuzfahrt war gebucht und bezahlt. In gewisser Hinsicht musste sie Angie zustimmen – es ergab tatsächlich Sinn, sich allein auf die Reise zu begeben. Doch leider war der Teil in ihr, der das Sinnvolle kategorisch ablehnte, dominanter. Ein Honeymoon als Single würde die Leere, die ihre ganze Welt ergriffen hatte, nur noch verstärken.
Nun stand Michelle mitten in ihrem Wohnzimmer und hörte Pam und Angie zu, wie sie ihre Argumente vorbrachten, und ganz langsam schien sich das Sinnvolle immer weiter in den Vordergrund zu drängen. Schließlich würde die Kreuzfahrt es Michelle ermöglichen – wie Pam auf keine sonderlich subtile Weise bemerkt hatte –, für eine kurze Zeit dem gezwungenen Lächeln und den mitleidigen Blicken zu entkommen, die sie sonst würde ertragen müssen. In Bluffview zu sein, wenn ihr Ex-Verlobter und ihre ehemals beste Freundin und Beinahe-Trauzeugin von ihrer spontanen Hochzeit in Las Vegas wiederkamen, erschien ihr so reizvoll wie eine Schale saurer Zitronen zu lutschen.
„Okay, Ladys. Ihr habt gewonnen.“ Michelle drehte sich auf dem Absatz um und stapfte die Treppe hinauf, ehe der Mut sie verlassen konnte. „Wenn ich mich auf eine Kreuzfahrt begeben soll, dann fangen wir lieber gleich an zu packen.“
Zwei Stunden später blickte Pam stirnrunzelnd auf das ärmellose, mit rosa Bändern abgesetzte Baumwollnachthemd hinab, während sie es an Michelle weiterreichte. „Schätzchen, du solltest diese Oma-Klamotten ausmisten und dir einen gut aussehenden Mann, oder auch zwei Männer, suchen, die dir zeigen, wie man sich amüsiert. Wenn du zurückkommst, ist alles nur noch halb so wild. Du wirst sehen.“
Für Pam war es ein sportlicher Zeitvertreib, sich mit dem anderen Geschlecht zu amüsieren, wie eine Runde Baseball, die man jeden Abend spielt – manchmal sogar zwei Runden hintereinander. Natürlich könnte das auch eine Erklärung dafür sein, dass Pam schon viermal verheiratet gewesen war.
Alles, was Michelle zustande brachte, war ein knappes Nicken und ein kläglicher Versuch zu lächeln, was aber eher wirkte wie ein nervöses Zucken.
Angie reichte ihr das letzte Kleidungsstück, das in den Koffer sollte – ein marineblauer Badeanzug. Ein seriöses, diskretes Design, das genau das zu repräsentieren schien, was mit Michelles Leben nicht stimmte. Seriös, fade … und langweilig.
***
Am nächsten Morgen ließ sich Michelle mit gepacktem Koffer und bereit, für eine Weile zu entkommen, von Angie und Pam zum Flughafen fahren. Ihre neuen Freundinnen blieben bei der Sicherheitskontrolle stehen und winkten breit grinsend. Diese beiden Frauen, die bis vor ein paar Tagen kaum mehr als eine gute Nachbarin und nette Kollegin gewesen waren, standen ihr nun bei wie zwei Pfeiler, die ein Dach vor dem Einsturz bewahrten.
Beobachter wären niemals darauf gekommen, dass Michelle sozusagen am Altar sitzen gelassen worden war und sich nun allein auf Hochzeitsreise begab.
Sie kletterte über den breiten Sitz am Gang hinweg und ließ sich auf den Fensterplatz gleiten, wobei sie innerlich ihren Ex-Verlobten verfluchte. Natürlich hatte Steven – oder der Betrüger, wie Pam ihn so treffend genannt hatte – nicht geknausert. Plätze in der ersten Klasse. Ich habe alles für unseren Honeymoon geregelt. Du verdienst nur das Beste. Erste Klasse in jeder Hinsicht. Stevens Worte gingen ihr immer wieder durch den Kopf. Wem wollte sie etwas vormachen? Auf dieser Reise würde sie Steven Williams IV nicht entkommen. Pam hatte recht. Er war ein Betrüger.
„Hätten Sie gern einen Champagner vor dem Start?“ Die hübsche blonde Stewardess hielt ihr ein Tablett mit kleinen Plastikflöten hin.
Offenbar durfte man in der ersten Klasse Champagner genießen, während die übrigen Passagiere mit den Gepäckfächern kämpften und sich auf enge Sitze quetschten, die niemandem über zwölf genügend Platz boten.
„Nein da…“ Sie hielt mitten im Wort inne. Warum eigentlich nicht? Auch wenn Michelle Bradford normalerweise nur an Silvester Champagner trank … Wollte sie tatsächlich die nächsten zehn Tage dasitzen und alle anderen dabei beobachten, wie sie Spaß hatten? Pam hatte recht. Sie verdiente es, sich zu amüsieren. Champagner zum Frühstück. Kaviar zum Mittagessen. Steak und Hummer zum Abendessen.
Michelle Bradford, das prüde und anständige Vorbild mit Oma-Outfits und seriösen Badeanzügen, konnte genauso gut in Bluffview bleiben. Michelle, der schwungvolle Single, würde in den nächsten zehn Tagen verdammt viel Spaß haben. Und damit würde sie genau jetzt beginnen.
Irgendetwas stimmte nicht. Michelle Bradford starrte ihr Handy an. Für eine Fremde hätte ihre Freundin aus Kindertagen vollkommen normal geklungen, aber Michelle konnte die leichte Anspannung in Beths Stimme hören, ebenso wie ihre abgehackte Atmung.
Ein Knoten bildete sich in Michelles Magen. Beth hatte sich in den letzten Wochen ein wenig … merkwürdig benommen. Gestern während der letzten Anprobe der Brautjungfernkleider war sie in Tränen ausgebrochen und aus dem Raum gestürmt. Danach hatte sie eine Entschuldigung gemurmelt, dass sie hormonell bedingt jeden Monat ein paar emotionale Tage habe und sie immer nur Brautjungfer – oder in diesem Fall Trauzeugin – sei und niemals die Braut.
Michelle hätte wissen müssen, dass Beths Reaktion durch etwas Ernsteres ausgelöst worden war, aber sie war so in ihre Hochzeitsvorbereitungen vertieft gewesen, dass sie ihrer besten Freundin nicht die Aufmerksamkeit schenken konnte, die sie verdient hätte.
Nun war Beth auf dem Weg zu ihr, und Michelle versuchte, die schrecklichen Szenarien zu verdrängen, die ihr in den Sinn kamen. Beth war gefeuert worden. Oder in eine andere Stadt versetzt worden. Sie war krank. Brauchte eine Niere. Oder, oh Gott, vielleicht hatte sie Krebs. Zu dem Zeitpunkt, als es an der Tür klingelte, hatte ihre Freundin mit allen Arten von Katastrophen zu kämpfen, abgesehen von einem Tsunami.
„Fang ruhig ohne mich mit dem Abendessen an“, rief Michelle ihrer jüngeren Schwester auf dem Weg durch den Flur zu.
Als sie die Tür aufriss, erschrak sie darüber, ihren Verlobten und ihre beste Freundin zu sehen. „Oh, Steven. Ich hab nicht damit gerechnet, dass deine Last-Minute-Geschäftsreise schon zu Ende ist. Warum gehst du nicht zu Corrie in die Küche und unterhältst dich mit ihr? Sie isst gerade zu Abend. Auf dem Herd steht noch Stroganoff. Ich geh nur kurz mit Beth ins Wohnzimmer.“
„Eigentlich …“, Steven trat um Beth herum, „bin ich absichtlich mit Beth gekommen. Wir müssen beide mit dir reden.“
„Oh. Alles klar.“ Nun mischte sich Verwirrung unter die Sorge, die bereits in ihrem Bauch brodelte. Sie gab Beth einen Kuss auf die Wange und Steven einen auf die Lippen.
Nachdem sie den beiden aus dem Flur ins Wohnzimmer gefolgt war, gingen Beth und Steven einen Augenblick ziellos im Raum umher, ehe sie sich gegenüber von Michelle auf das Sofa setzten.
„Michelle …“, setzte Steven an.
„Lass mich es tun“, unterbrach Beth.
„Nein. Ich glaube, es ist einfacher, wenn ich es erkläre.“
„Aber es ist meine Schuld.“
„Es geht hier nicht um Schuld.“ Steven bewegte seine Hand, als wollte er Beth berühren, zog sie dann aber eilig wieder zurück. „Bitte.“
Mittlerweile noch verwirrter beobachtete Michelle die Menschen beim Diskutieren, denen sie am allernächsten stand, und fragte sich, an welchem Punkt sie in die Unterhaltung involviert werden würde. „Also irgendjemand sollte mir nun irgendwas erklären, weil keiner von euch beiden bisher etwas Sinnvolles von sich gegeben hat.“
Mit gesenktem Blick nickte Beth, und Steven atmete tief durch. „Wir alle sind schon seit Langem befreundet.“
„Ja. In der Tat“, pflichtete Michelle ihm bei.
„Bitte.“ Steven hob eine Hand. „Lass mich zu Ende sprechen.“
Michelle rutschte an die Sofakante und fragte sich, in welches schreckliche Szenario sowohl Beth als auch Steven verwickelt sein konnten.
„Wie gesagt“, fuhr Steven fort, „habe ich dich und Beth zur gleichen Zeit kennengelernt. Wir drei sind genauso oft zusammen ausgegangen wie wir zwei alleine. In den letzten paar Jahren habe ich mit Beth mehr Banketts und Benefizveranstaltungen besucht als mit dir, weil sich Corries Freizeitaktivitäten oft mit meinen gesellschaftlichen Verpflichtungen überschnitten haben.“
Michelle wandte sich ihrer langjährigen Freundin zu. „Und ich kann dir nicht genug dafür danken, dass du so oft kurzfristig für mich eingesprungen bist.“
Beth nickte schwach.
„Nun.“ Stevens Blick huschte für einen Augenblick zum Kamin, ehe er wieder Michelle anschaute. „Du und ich sind seit fast fünf Jahren verlobt. Die Hochzeit wurde so oft verschoben – ich glaube nicht, dass irgendjemand in diesem Ort noch damit rechnet, dass wir heiraten. Und offen gestanden frage ich mich schon seit einiger Zeit, ob die Tatsache, dass du deine kleine Schwester großziehen musstest, nur eine Ausrede war, weil du mich gar nicht wirklich heiraten willst.“
„Das stimmt nicht.“ Michelle sprang auf und ging auf Steven zu, doch er winkte sie auf ihren Platz zurück.
„Bitte. Setz dich.“ Er wartete einen quälend langen Augenblick, während sie wieder Platz nahm. „Ich sage ja nur, dass du mir wahrscheinlich zustimmen wirst, wenn wir einen Moment innehalten und uns anschauen, wie die Dinge in letzter Zeit gelaufen sind. Nach all den Jahren sind wir wahrscheinlich mehr in die Idee verliebt, zu heiraten, als ineinander. Zumindest nicht so, wie zwei Menschen füreinander empfinden sollten, die sich das Versprechen geben, für immer zusammen zu bleiben.“
Michelle wollte schreien „Du täuschst dich“, aber ihr Mund schien nicht zu funktionieren. Natürlich wollte sie Steven heiraten. Wer würde nicht einen Mann heiraten wollen, der so gütig, großzügig und gefestigt war wie er? Während sie darauf wartete, dass Steven fortfuhr, beobachtete sie, wie Beth die Finger ineinander wand und ihrem Blick auswich. Nichts von alledem ergab Sinn.
Und dann traf es sie wie der Schlag. Steven war im Begriff, die Hochzeit abzublasen, und hatte Beth mitgebracht, damit sie ihr beistehen würde. Eine Rolle, die Beth seit ihrer Kindheit wunderbar ausfüllte. Sie war ihre Rettung gewesen, als Michelles Eltern plötzlich gestorben waren und sie mit einem Mal für ein zehnjähriges Mädchen verantwortlich gewesen war.
„Du willst mich nicht heiraten“, flüsterte sie. Der Knoten in ihrem Magen wurde fester und zerbarst schließlich, sodass sie sich krümmen musste. All die Zeit, das Geld, das Kleid – die Gäste.
„Liebling … Michelle, ich weiß, es ist jetzt gerade schwer, es zu akzeptieren, aber mit der Zeit wirst du sehen, dass alles, was ich sage, stimmt, das glaube ich ganz ehrlich. Du willst mich nicht wirklich heiraten.“
Michelle hob den Kopf, um den Mann anzuschauen, der nun ihr Ex-Verlobter war. Doch ihr Blick fiel auf seine Hand, die fest mit Beths Hand verschlungen war.
Beth hatte aufgehört, ihre Finger ineinander zu winden, und biss sich nun auf die Unterlippe.
Michelle setzte sich gerade hin und betrachtete ihre beste Freundin eingehend. Das konnte nicht wahr sein.
Als Beth aufschaute und nickte, drohte Michelles Mittagessen, wieder hochzukommen.
„Du?“, brachte sie hervor.
Diesmal bedachte Steven sie mit einem stummen Nicken. „Morgen Früh nehmen wir den ersten Flug nach Vegas. Beth und ich werden heiraten.“
***
Seit wann existierten Hochzeitsreisen für eine Person?
„Es ergibt aber Sinn.“ Angie Cannon, Single, attraktiv, brünett, Mitte dreißig und seit drei Jahren Michelles Nachbarin, stand mit in die Hüften gestemmten Händen da und starrte Michelle an, als wäre sie schwer von Begriff.
„Ich …“ Ja, was eigentlich? Ich würde mir dumm dabei vorkommen? Ob nun am Meer oder zu Hause in Bluffview – dass sie sich dumm vorkam, würde sich so schnell nicht ändern. Was sollte sie also erwidern? „Ich kann Corrie nicht alleine lassen.“
„Ich bleibe bei ihr.“ Ohne zu zögern, bot Angie an, für Michelles ehemals beste Freundin einzuspringen.
Michelle schüttelte den Kopf. Der ursprüngliche Plan war gewesen, dass Beth bei Michelles Schwester Corrie blieb, während Michelle und Steven ihre Kreuzfahrt antraten. Aber da nun Beth und Steven auf Hochzeitsreise in Vegas waren, hatte Michelle nicht nur ihren Verlobten, sondern auch ihre beste Freundin und Anstandsdame für Corrie verloren. „Das kann ich nicht von dir verlangen.“
„Das hast du ja auch nicht, ich biete es dir trotzdem an. Also pack deinen Koffer, und mach dir einen schönen Urlaub.“
Einen schönen Urlaub? Michelle hätte sich am liebsten die Haare ausgerupft und wäre schreiend aus dem Zimmer gelaufen. Sie war beinahe erleichtert, als es an der Tür klingelte. Beinahe. Wenn sie Glück hatte, würde sie ein paar Zeugen Jehovas auf ihrer Veranda vorfinden, aber bei dem Pech, das ihr in letzter Zeit widerfahren war, war es wahrscheinlicher, dass es irgendeine Nervensäge auf sie abgesehen hatte.
Ohne sich die Mühe zu machen, ein Lächeln aufzusetzen, schwang sie die Tür auf und funkelte die Person, wer auch immer sie sein mochte, wütend an.
„Als du dich krankgemeldet hast, wusste ich, dass irgendwas nicht stimmt. Und dann hab ich die Neuigkeiten erfahren. Ich hab versucht, dich anzurufen.“ Pam Stuart aus dem Büro kam hereingestürmt wie ein Wirbelwind. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Dieser Betrüger.“
Seit sich im Ort wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, dass die arme Michelle sitzen gelassen worden war, wurde sie mit Mitleidsbekundungen überhäuft. Schließlich hatte sie ihren Festnetzanschluss ausgestöpselt und ihr Handy abgeschaltet. Bisher waren nur ihre Nachbarin und ihre Arbeitskollegin mutig genug gewesen – oder vielleicht waren sie auch die Einzigen, denen es nicht egal war –, über ihre Türschwelle zu treten.
„Pam, das ist meine Nachbarin Angie.“ Michelle deutete auf die Frau, die immer noch mitten im Wohnzimmer stand und die Fäuste in die Hüften gestemmt hatte. „Pam und ich arbeiten zusammen bei der Zeitung.“
Die beiden Frauen tauschten ein kurzes Lächeln, ebenso wie ein paar Höflichkeitsfloskeln.
„Kann ich dir was zu trinken anbieten?“, fragte Michelle.
Pam schüttelte den Kopf. „Nein danke.“
„Also gut.“ Angie nahm auf dem Sofa Platz und wandte sich Michelle zu. „Ich wiederhole. Du solltest es alleine durchziehen.“
„Was?“, fragte Pam, die sich nun langsam auf den nächstbesten Stuhl sinken ließ.
„Die Kreuzfahrt“, antwortete Angie, aber löste ihren Blick nicht von Michelle.
„Die Honeymoon-Kreuzfahrt“, korrigierte Michelle.
Ein erfreutes Lächeln machte sich auf Pams Gesicht breit. „Oh, ich finde, das ist eine ganz wunderbare Idee.“
Hatten alle im Raum außer ihr den Verstand verloren? Wie konnte sie diesen Menschen nur begreiflich machen, dass sie ihre Hochzeitsreise nicht allein antreten wollte?
Pam sprang auf. „Denk doch mal drüber nach. Du willst nicht hier sitzen und Trübsal blasen, wenn das glückliche Paar zurückkommt.“
Angie sog zischend die Luft ein und verzog das Gesicht, als hätten Pams Worte ihr körperliche Schmerzen bereitet.
Als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte, zuckte Pam zusammen. „Tut mir leid, Schätzchen. Du weißt, ich hab’s nicht so gemeint, wie es klang.“
„Ja. Schon in Ordnung.“ Aber es war nicht in Ordnung. Es würde niemals in Ordnung sein. Ihre perfekt durchgeplante Hochzeit und das „Wenn sie nicht gestorben sind …“ waren mit einem Mal geplatzt. Es hatte den ganzen Tag gedauert, alles abzusagen. Den Kuchen, die Location, den Fotografen, das Catering, die Musiker. Zum Glück hatte Angie die Aufgabe übernommen, allen Gästen Bescheid zu geben.
Das Einzige, was noch abgesagt werden musste, war die Hochzeitsreise. Die Kreuzfahrt war gebucht und bezahlt. In gewisser Hinsicht musste sie Angie zustimmen – es ergab tatsächlich Sinn, sich allein auf die Reise zu begeben. Doch leider war der Teil in ihr, der das Sinnvolle kategorisch ablehnte, dominanter. Ein Honeymoon als Single würde die Leere, die ihre ganze Welt ergriffen hatte, nur noch verstärken.
Nun stand Michelle mitten in ihrem Wohnzimmer und hörte Pam und Angie zu, wie sie ihre Argumente vorbrachten, und ganz langsam schien sich das Sinnvolle immer weiter in den Vordergrund zu drängen. Schließlich würde die Kreuzfahrt es Michelle ermöglichen – wie Pam auf keine sonderlich subtile Weise bemerkt hatte –, für eine kurze Zeit dem gezwungenen Lächeln und den mitleidigen Blicken zu entkommen, die sie sonst würde ertragen müssen. In Bluffview zu sein, wenn ihr Ex-Verlobter und ihre ehemals beste Freundin und Beinahe-Trauzeugin von ihrer spontanen Hochzeit in Las Vegas wiederkamen, erschien ihr so reizvoll wie eine Schale saurer Zitronen zu lutschen.
„Okay, Ladys. Ihr habt gewonnen.“ Michelle drehte sich auf dem Absatz um und stapfte die Treppe hinauf, ehe der Mut sie verlassen konnte. „Wenn ich mich auf eine Kreuzfahrt begeben soll, dann fangen wir lieber gleich an zu packen.“
Zwei Stunden später blickte Pam stirnrunzelnd auf das ärmellose, mit rosa Bändern abgesetzte Baumwollnachthemd hinab, während sie es an Michelle weiterreichte. „Schätzchen, du solltest diese Oma-Klamotten ausmisten und dir einen gut aussehenden Mann, oder auch zwei Männer, suchen, die dir zeigen, wie man sich amüsiert. Wenn du zurückkommst, ist alles nur noch halb so wild. Du wirst sehen.“
Für Pam war es ein sportlicher Zeitvertreib, sich mit dem anderen Geschlecht zu amüsieren, wie eine Runde Baseball, die man jeden Abend spielt – manchmal sogar zwei Runden hintereinander. Natürlich könnte das auch eine Erklärung dafür sein, dass Pam schon viermal verheiratet gewesen war.
Alles, was Michelle zustande brachte, war ein knappes Nicken und ein kläglicher Versuch zu lächeln, was aber eher wirkte wie ein nervöses Zucken.
Angie reichte ihr das letzte Kleidungsstück, das in den Koffer sollte – ein marineblauer Badeanzug. Ein seriöses, diskretes Design, das genau das zu repräsentieren schien, was mit Michelles Leben nicht stimmte. Seriös, fade … und langweilig.
***
Am nächsten Morgen ließ sich Michelle mit gepacktem Koffer und bereit, für eine Weile zu entkommen, von Angie und Pam zum Flughafen fahren. Ihre neuen Freundinnen blieben bei der Sicherheitskontrolle stehen und winkten breit grinsend. Diese beiden Frauen, die bis vor ein paar Tagen kaum mehr als eine gute Nachbarin und nette Kollegin gewesen waren, standen ihr nun bei wie zwei Pfeiler, die ein Dach vor dem Einsturz bewahrten.
Beobachter wären niemals darauf gekommen, dass Michelle sozusagen am Altar sitzen gelassen worden war und sich nun allein auf Hochzeitsreise begab.
Sie kletterte über den breiten Sitz am Gang hinweg und ließ sich auf den Fensterplatz gleiten, wobei sie innerlich ihren Ex-Verlobten verfluchte. Natürlich hatte Steven – oder der Betrüger, wie Pam ihn so treffend genannt hatte – nicht geknausert. Plätze in der ersten Klasse. Ich habe alles für unseren Honeymoon geregelt. Du verdienst nur das Beste. Erste Klasse in jeder Hinsicht. Stevens Worte gingen ihr immer wieder durch den Kopf. Wem wollte sie etwas vormachen? Auf dieser Reise würde sie Steven Williams IV nicht entkommen. Pam hatte recht. Er war ein Betrüger.
„Hätten Sie gern einen Champagner vor dem Start?“ Die hübsche blonde Stewardess hielt ihr ein Tablett mit kleinen Plastikflöten hin.
Offenbar durfte man in der ersten Klasse Champagner genießen, während die übrigen Passagiere mit den Gepäckfächern kämpften und sich auf enge Sitze quetschten, die niemandem über zwölf genügend Platz boten.
„Nein da…“ Sie hielt mitten im Wort inne. Warum eigentlich nicht? Auch wenn Michelle Bradford normalerweise nur an Silvester Champagner trank … Wollte sie tatsächlich die nächsten zehn Tage dasitzen und alle anderen dabei beobachten, wie sie Spaß hatten? Pam hatte recht. Sie verdiente es, sich zu amüsieren. Champagner zum Frühstück. Kaviar zum Mittagessen. Steak und Hummer zum Abendessen.
Michelle Bradford, das prüde und anständige Vorbild mit Oma-Outfits und seriösen Badeanzügen, konnte genauso gut in Bluffview bleiben. Michelle, der schwungvolle Single, würde in den nächsten zehn Tagen verdammt viel Spaß haben. Und damit würde sie genau jetzt beginnen.