Jack: Du bist mein Ein und Alles
Kapitel Eins
„Ist es in Texas immer so heiß?“ Siobhans Freundin und ehemalige College-Mitbewohnerin Bridget wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. Als ob das helfen würde …
Ihr Blick war starr nach vorn gerichtet, und Siobhan machte sich nicht die Mühe, aufzuschauen. „Kennst du den Ausdruck, ein Ei auf dem Bürgersteig braten?“
Bridget blinzelte gegen das Sonnenlicht und nickte.
„Texas hat ihn erfunden.“
„Ich werde das berücksichtigen, wenn ich das nächste Mal herkomme, und einen kühleren Monat wählen.“
Siobhan richtete ihre Kamera auf ein Küken, das unter einem dürren Strauch in der Erde pickte, knipste ein Foto, und erwiderte: „Am besten im Oktober. Sofern dir Regen nichts ausmacht.“
„Ich glaube, ich bin lieber nass, als dass ich vor Hitze zerfließe.“
Siobhan lachte. Ihre Freundin hatte nicht ganz unrecht.
„Sag mir bitte noch einmal, warum wir hier draußen in dieser entsetzlichen Hitze unterwegs sind?“
„Der State Fair.“ Texas hatte einige der am meisten unterbewerteten Nationalparks des Landes. Wenn sie wollte, dass ihre fotografische Karriere ein Niveau erreichte, das dem Namen Baron entsprach, brauchte sie etwas Anerkennung. Ein Freund ihrer Schwester, der eine Kunstgalerie besaß, hatte vorgeschlagen, dass ein oder zwei Auszeichnungen auf dem Texas State Fair das Richtige wären. In der Geschichte der preisgekrönten Fotografie dominierten Tier- und Naturfotos, und in den texanischen Nationalparks gab es beides in Hülle und Fülle.
Bridget schraubte den Deckel ihrer warmen Wasserflasche ab und trank den Rest aus. „Du hast zwanzig, höchstens dreißig Minuten, um dein Preisfoto zu machen, und dann fahren wir zurück zum Hotel, um Wasser nachzufüllen.“ Bridget verzog den Mund zu dem erzwungenen Lächeln, das Siobhan schon den ganzen Tag über gesehen hatte. „Und ein Sprung in den Pool, um sich abzukühlen, klingt auch ganz gut.“
Wieder einmal hatte ihre Freundin recht. Die Hitze war zu dieser Jahreszeit ein wenig drückend. „Abgemacht.“
Jetzt breitete sich ein echtes Lächeln auf Bridgets Gesicht aus.
Zehn Minuten später schaute Siobhan in einen Felsspalt neben einem Abgrund und entdeckte das perfekte Motiv. „Da!“
Bridgets Blick wanderte nach links und rechts, dann nach oben und unten. „Wo da?“
Siobhan lehnte sich mit einem ausgestreckten Arm an einen Felsen und deutete auf die einsame rosa Blüte, die in dessen Mitte gedieh. „Genau da! Diese Blume.“
Als Bridgets Blick das Ende von Siobhans Finger erreichte und sich auf der Blume niederließ, zog sie die Brauen fest zusammen. „Sieht für mich nicht nach einem guten Motiv aus.“
„Oh doch, das ist es.“ Vor ihrem geistigen Auge konnte Siobhan das Foto bereits sehen. Sie musste nur noch … „Ich muss näher ran.“
„Was?“ Bridget machte einen Schritt nach vorn, blickte auf den nur wenige Meter entfernten Abgrund und wich zurück. „Es muss doch noch einen … Hey, sei vorsichtig!“
Siobhan stand am äußersten Rand des Abgrunds und neigte den Kopf sowie ihre Kamera, aber es gab keine Möglichkeit, den gewünschten Winkel zu erreichen. Sie atmete tief ein und aus und sah nach oben. Selbst sie hatte nicht den Mut, an der Felskante entlangzuklettern, um näher heranzukommen. Es wäre möglich, wenn sie die richtige Ausrüstung hätte, aber nicht mit bloßen Händen. Und dann entdeckte sie ihn. Einen einsamen Baum.
„Dieser Ausdruck auf deinem Gesicht gefällt mir nicht.“ Mit einer Hand schirmte sie ihre Augen ab und schaute nach oben. „Was auch immer du denkst, das ist eine schlechte … Hey! Wo willst du denn hin?“
Siobhan wollte unbedingt das Foto machen, solange das Sonnenlicht noch hinter ihr war, und lief rasch den schmalen Pfad hinauf. „Zu diesem Baum.“
„Baum?“ Bridget folgte ihr, die Aufmerksamkeit auf den felsigen Pfad gerichtet. „Bist du sicher, dass ihr Barons nicht zum Teil Bergziegen seid? Nicht so schnell!“
„Ich habe nicht viel Zeit.“
„Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Das heißt, wenn wir nicht von diesem Felsen stürzen. Langsam!“
„Da!“ Sie hatte den einsamen Baum erreicht, der sehr stabil, wenn auch ein wenig leblos wirkte.
„Was willst du mit einem toten Baum?“ Bridget ging ganz langsam nach links, weg vom Abgrund. Sie schaute von diesem auf die Felsen und dann wieder zu Siobhan. Ihr darauffolgender leiser Aufschrei war in der gesamten Schlucht zu hören. „Runter von dem Baum!“
Siobhan war bereits auf halber Höhe des Stammes und davon überzeugt, dass die Wurzeln fest im Boden steckten, auch wenn der Baum wirklich halbtot war. Sie brauchte nur noch den obersten Ast zu erreichen, um sich daran festzuhalten, sich nach vorn zu beugen und die Aufnahme von der Blume zu machen.
„Siobhan Pegeen Baron, komm sofort da runter!“ Bridget stampfte mit dem Fuß auf den Boden und stemmte die zu Fäusten geballten Hände in die Hüften. „Du wirst wegen eines blöden Fotos noch draufgehen.“
„Es ist nicht blöd, und ich werde nicht … Ups!“ Ein Fuß rutschte von der glatten Rinde ab, und als ihr wohlgeformter irischer Hintern in Richtung Boden sauste, umklammerte Siobhan den Baum rasch mit beiden Armen.
„O mein Gott! Das wird mir deine Mutter nie verzeihen. Du kommst sofort da runter!“
Siobhan musste nicht zu ihrer Freundin hinunterschauen, um zu wissen, dass diese sowohl vor Wut kochte als auch panische Angst hatte. Jetzt, wo Siobhan buchstäblich über dem Abgrund hing, gab es keinen Grund mehr, die Aufnahme sausen zu lassen. Siobhan ergriff mit einer Hand die Kamera, die immer noch an ihrem Hals baumelte, und umklammerte mit dem anderen Arm den Baumstamm.
„Warum hörst du nicht auf mich?“
„Nur noch eine Minute.“ Da sie nicht in der Lage war, sowohl ihr Gewicht als auch den Fotoapparat zu halten, setzte Siobhan ihre Lieblingskamera auf einem Zweig ab und drückte mit einer leichten Bewegung nach vorn auf den Auslöser. Eine Wolke zog vorbei und warf einen Schatten neben die Blume, und Siobhan klickte weiter. Mutter Natur war einfach wunderbar!
Die Fotos waren gemacht, und sie war überzeugt, dass sie mit diesen Aufnahmen den begehrten Preis gewinnen würde. Jetzt aber musste sie nur noch eines herausfinden: Wie zum Teufel sollte sie von diesem Baum herunterkommen, ohne in den Tod zu stürzen?
* * *
Alles, was Jack Preston jetzt benötigte, waren ein paar Stunden Schlaf, dann wäre er wieder hergestellt. Er löste seine Fliege, steckte sie in die Jackettasche und öffnete den Hemdknopf, der ihm stundenlang die Kehle zugeschnürt hatte. Als er gestern Abend diesen Smoking angezogen hatte, hatte er erwartet, lange vor Sonnenaufgang wieder zu Hause oder zumindest im Bett zu sein. Womit er nicht gerechnet hatte, war eine sich ewig in die Länge ziehende After-Party.
Die vergangenen zwei Stunden hatten sich angefühlt, als wäre er in die Zeit eines Musical-Blockbusters aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückversetzt worden. Ja, bis gestern Abend hatte er noch nie einen ganzen Raum voller Gäste gesehen, die stundenlang um einen Flügel herum sangen – außer in alten Filmen. Mit allen anwesenden weiblichen Singles zu tanzen, war nichts Ungewöhnliches für ihn. Dies aber zu tun, bis das Sonnenlicht durch die Penthouse-Fenster schien und Devlin Barons Dienstmädchen den verbliebenen zwanzig oder dreißig Gästen Frühstück servierte, war eine weitere Premiere.
Irgendwie hatte Connie Danner ihn in einem Moment der Schwäche und in letzter Minute überredet, ihre Begleitung auf einer Black Tie Hochzeit zu sein. Heute Abend! Also noch eine verflixte Hochzeit. Im vergangenen Jahr war er auf mehr Hochzeiten gewesen als in den zehn Jahren zuvor. Als Andrew Baron geheiratet hatte, war der innere Zirkel der College-Freunde, der nichts dagegen gehabt hatte, für eine gute Jachtparty spontan nach Monaco zu fliegen, nicht ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen worden. Als sein bester Partykumpel Kyle geheiratet und seinen Partyhut an den Nagel gehängt hatte, schien ein Dominoeffekt der einknickenden Junggesellen eingesetzt zu haben. Seine übriggebliebenen Mitstreiter der begehrtesten Junggesellen waren nicht mehr aus demselben Holz geschnitzt wie diejenigen, die nun einen Ring am Finger hatten.
Nach weniger als zehn Minuten Fahrt klingelte sein Handy, und der Name seiner Mutter blinkte auf dem Armaturenbrett auf. Er drückte einen Knopf am Lenkrad und nahm den Anruf entgegen. „Hey, Mom.“
„Du bist spät dran.“
Nach einem raschen Blick auf die Uhr vor ihm runzelte er die Stirn und zwang sich, in Gedanken durchzugehen, wofür er spät dran war.
„Margaret sitzt beleidigt in der Küche. Du weißt, wie sehr sie es hasst, Essen warmzuhalten.“
Der Brunch! „Tut mir leid, Mom. Ich bin in etwa fünfzehn Minuten da.“
„Bis gleich, mein Sohn.« Ihre Stimme wurde wieder sanft. „Ich hab dich lieb.“
„Hab dich auch lieb.“ Wie müde er auch sein mochte, die Angewohnheit seiner Mutter, lieber „Ich liebe dich“ als »Auf Wiedersehen“ zu sagen, brachte ihn immer zum Lächeln.
An der nächsten Ampel krempelte er seine Ärmel hoch, öffnete einen weiteren Knopf seines Hemds und nahm sich vor, dass er seine Halbschuhe aus dem Kofferraum holen und gegen die Anzugschuhe tauschen würde. Auch wenn er kein Teenager mehr war, der seine nächtlichen Eskapaden vor seinen Eltern geheim halten musste, konnte er zumindest verbergen, dass er die ganze Nacht gefeiert hatte.
Sein Telefon summte mit einer Nachricht, während er auf das Grundstück seiner Familie fuhr. Das Armaturenbrett zeigte sie an. Connie würde eine Stunde früher in der Kirche sein müssen, um sich mit den anderen Brautjungfern umzuziehen, aber ihr Auto hatte auf der Heimfahrt komische Geräusche gemacht. Er möge sie bitte abholen, anstatt sie dort zu treffen. Obwohl er lieber etwas Zeit für ein Nickerchen gehabt hätte, würde er nun in einer leeren Kirche auf eine weitere Hochzeitsgesellschaft warten müssen. Als er den Wagen vor dem Haus geparkt hatte, schrieb er Connie, dass das kein Problem sei, steckte das Telefon in seine Tasche und ging die Treppe hinauf.
Sein Vater, der bereits am Tisch saß, ließ den Blick beiläufig über Jack schweifen, bevor sich die vertrauten tiefen Falten zwischen seinen Brauen bildeten. „Lange Nacht?“
Jack widerstand dem Drang, das zu bejahen und sich zu entschuldigen, und senkte einfach nur kurz das Kinn, bevor er sich für eine kurze Umarmung und einen Begrüßungskuss zu seiner Mutter beugte. „Spielt ihr heute Nachmittag Bridge?“
Mit einem süßen Lächeln schmierte seine Mutter Marmelade auf ein Croissant und nickte. „Die McKenzies sind in Europa, also spielen wir mit den Whitehalls. Das dürfte interessant werden.“
Jack bediente sich am Buffet und rief sich die Whitehalls in Erinnerung. „Betrügen die nicht ständig beim Kartenspiel?“
„Das tun beide“, murmelte sein Vater, die Kaffeetasse vor seine Lippen haltend.
„Wir haben einen Plan.“ Seine Mutter lächelte ihn verschmitzt an. „Wir werden darauf bestehen, dass die Männer gegen die Frauen spielen. Tiffany wird also keinen Partner haben, dem sie ein Zeichen geben kann.“
Jack lächelte seine Mutter an. Sie hatte stets eine Lösung für jedes Problem.
„Apropos Partner.« Sein Vater stellte seine Kaffeetasse auf dem Tisch ab. „Du wirst nicht jünger.“
Und jetzt folgte wieder die bekannte Leier. Seit Jacks fünfunddreißigstem Geburtstag hatte sein Vater immer vehementer darauf bestanden, dass es für ihn an der Zeit war, sesshaft zu werden. Seit Kyles Hochzeit hatte sein Vater einen Weg gefunden, das Thema in jedes Gespräch einzubauen. „Keiner von uns wird es.“
„Du weißt, was ich meine.“ Sein Vater schnappte sich ein warmes Croissant und brach es auseinander. „Sogar Kyle Baron hat eine nette Frau gefunden. Bei dem Tempo, das du an den Tag legst, wirst du ein Gebiss tragen, während du Kinder großziehst.“
„Kein Grund zur Übertreibung, Dad. So alt bin ich nun auch wieder nicht.“
„Du bist auch nicht mehr sonderlich jung.“ Touché. Jack musste zugeben, dass er Kyle und seine Brüder ein wenig beneidete, aber manche Männer waren einfach nicht dafür geschaffen, sesshaft zu werden. Jack war kein häuslicher Typ. Sein Vater würde früher oder später einfach akzeptieren müssen, dass abendliches Fernsehen mit der Gattin und nächtliches Windelnwechseln beim Baby für Jack nicht infrage kamen.
„Ist es in Texas immer so heiß?“ Siobhans Freundin und ehemalige College-Mitbewohnerin Bridget wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. Als ob das helfen würde …
Ihr Blick war starr nach vorn gerichtet, und Siobhan machte sich nicht die Mühe, aufzuschauen. „Kennst du den Ausdruck, ein Ei auf dem Bürgersteig braten?“
Bridget blinzelte gegen das Sonnenlicht und nickte.
„Texas hat ihn erfunden.“
„Ich werde das berücksichtigen, wenn ich das nächste Mal herkomme, und einen kühleren Monat wählen.“
Siobhan richtete ihre Kamera auf ein Küken, das unter einem dürren Strauch in der Erde pickte, knipste ein Foto, und erwiderte: „Am besten im Oktober. Sofern dir Regen nichts ausmacht.“
„Ich glaube, ich bin lieber nass, als dass ich vor Hitze zerfließe.“
Siobhan lachte. Ihre Freundin hatte nicht ganz unrecht.
„Sag mir bitte noch einmal, warum wir hier draußen in dieser entsetzlichen Hitze unterwegs sind?“
„Der State Fair.“ Texas hatte einige der am meisten unterbewerteten Nationalparks des Landes. Wenn sie wollte, dass ihre fotografische Karriere ein Niveau erreichte, das dem Namen Baron entsprach, brauchte sie etwas Anerkennung. Ein Freund ihrer Schwester, der eine Kunstgalerie besaß, hatte vorgeschlagen, dass ein oder zwei Auszeichnungen auf dem Texas State Fair das Richtige wären. In der Geschichte der preisgekrönten Fotografie dominierten Tier- und Naturfotos, und in den texanischen Nationalparks gab es beides in Hülle und Fülle.
Bridget schraubte den Deckel ihrer warmen Wasserflasche ab und trank den Rest aus. „Du hast zwanzig, höchstens dreißig Minuten, um dein Preisfoto zu machen, und dann fahren wir zurück zum Hotel, um Wasser nachzufüllen.“ Bridget verzog den Mund zu dem erzwungenen Lächeln, das Siobhan schon den ganzen Tag über gesehen hatte. „Und ein Sprung in den Pool, um sich abzukühlen, klingt auch ganz gut.“
Wieder einmal hatte ihre Freundin recht. Die Hitze war zu dieser Jahreszeit ein wenig drückend. „Abgemacht.“
Jetzt breitete sich ein echtes Lächeln auf Bridgets Gesicht aus.
Zehn Minuten später schaute Siobhan in einen Felsspalt neben einem Abgrund und entdeckte das perfekte Motiv. „Da!“
Bridgets Blick wanderte nach links und rechts, dann nach oben und unten. „Wo da?“
Siobhan lehnte sich mit einem ausgestreckten Arm an einen Felsen und deutete auf die einsame rosa Blüte, die in dessen Mitte gedieh. „Genau da! Diese Blume.“
Als Bridgets Blick das Ende von Siobhans Finger erreichte und sich auf der Blume niederließ, zog sie die Brauen fest zusammen. „Sieht für mich nicht nach einem guten Motiv aus.“
„Oh doch, das ist es.“ Vor ihrem geistigen Auge konnte Siobhan das Foto bereits sehen. Sie musste nur noch … „Ich muss näher ran.“
„Was?“ Bridget machte einen Schritt nach vorn, blickte auf den nur wenige Meter entfernten Abgrund und wich zurück. „Es muss doch noch einen … Hey, sei vorsichtig!“
Siobhan stand am äußersten Rand des Abgrunds und neigte den Kopf sowie ihre Kamera, aber es gab keine Möglichkeit, den gewünschten Winkel zu erreichen. Sie atmete tief ein und aus und sah nach oben. Selbst sie hatte nicht den Mut, an der Felskante entlangzuklettern, um näher heranzukommen. Es wäre möglich, wenn sie die richtige Ausrüstung hätte, aber nicht mit bloßen Händen. Und dann entdeckte sie ihn. Einen einsamen Baum.
„Dieser Ausdruck auf deinem Gesicht gefällt mir nicht.“ Mit einer Hand schirmte sie ihre Augen ab und schaute nach oben. „Was auch immer du denkst, das ist eine schlechte … Hey! Wo willst du denn hin?“
Siobhan wollte unbedingt das Foto machen, solange das Sonnenlicht noch hinter ihr war, und lief rasch den schmalen Pfad hinauf. „Zu diesem Baum.“
„Baum?“ Bridget folgte ihr, die Aufmerksamkeit auf den felsigen Pfad gerichtet. „Bist du sicher, dass ihr Barons nicht zum Teil Bergziegen seid? Nicht so schnell!“
„Ich habe nicht viel Zeit.“
„Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Das heißt, wenn wir nicht von diesem Felsen stürzen. Langsam!“
„Da!“ Sie hatte den einsamen Baum erreicht, der sehr stabil, wenn auch ein wenig leblos wirkte.
„Was willst du mit einem toten Baum?“ Bridget ging ganz langsam nach links, weg vom Abgrund. Sie schaute von diesem auf die Felsen und dann wieder zu Siobhan. Ihr darauffolgender leiser Aufschrei war in der gesamten Schlucht zu hören. „Runter von dem Baum!“
Siobhan war bereits auf halber Höhe des Stammes und davon überzeugt, dass die Wurzeln fest im Boden steckten, auch wenn der Baum wirklich halbtot war. Sie brauchte nur noch den obersten Ast zu erreichen, um sich daran festzuhalten, sich nach vorn zu beugen und die Aufnahme von der Blume zu machen.
„Siobhan Pegeen Baron, komm sofort da runter!“ Bridget stampfte mit dem Fuß auf den Boden und stemmte die zu Fäusten geballten Hände in die Hüften. „Du wirst wegen eines blöden Fotos noch draufgehen.“
„Es ist nicht blöd, und ich werde nicht … Ups!“ Ein Fuß rutschte von der glatten Rinde ab, und als ihr wohlgeformter irischer Hintern in Richtung Boden sauste, umklammerte Siobhan den Baum rasch mit beiden Armen.
„O mein Gott! Das wird mir deine Mutter nie verzeihen. Du kommst sofort da runter!“
Siobhan musste nicht zu ihrer Freundin hinunterschauen, um zu wissen, dass diese sowohl vor Wut kochte als auch panische Angst hatte. Jetzt, wo Siobhan buchstäblich über dem Abgrund hing, gab es keinen Grund mehr, die Aufnahme sausen zu lassen. Siobhan ergriff mit einer Hand die Kamera, die immer noch an ihrem Hals baumelte, und umklammerte mit dem anderen Arm den Baumstamm.
„Warum hörst du nicht auf mich?“
„Nur noch eine Minute.“ Da sie nicht in der Lage war, sowohl ihr Gewicht als auch den Fotoapparat zu halten, setzte Siobhan ihre Lieblingskamera auf einem Zweig ab und drückte mit einer leichten Bewegung nach vorn auf den Auslöser. Eine Wolke zog vorbei und warf einen Schatten neben die Blume, und Siobhan klickte weiter. Mutter Natur war einfach wunderbar!
Die Fotos waren gemacht, und sie war überzeugt, dass sie mit diesen Aufnahmen den begehrten Preis gewinnen würde. Jetzt aber musste sie nur noch eines herausfinden: Wie zum Teufel sollte sie von diesem Baum herunterkommen, ohne in den Tod zu stürzen?
* * *
Alles, was Jack Preston jetzt benötigte, waren ein paar Stunden Schlaf, dann wäre er wieder hergestellt. Er löste seine Fliege, steckte sie in die Jackettasche und öffnete den Hemdknopf, der ihm stundenlang die Kehle zugeschnürt hatte. Als er gestern Abend diesen Smoking angezogen hatte, hatte er erwartet, lange vor Sonnenaufgang wieder zu Hause oder zumindest im Bett zu sein. Womit er nicht gerechnet hatte, war eine sich ewig in die Länge ziehende After-Party.
Die vergangenen zwei Stunden hatten sich angefühlt, als wäre er in die Zeit eines Musical-Blockbusters aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückversetzt worden. Ja, bis gestern Abend hatte er noch nie einen ganzen Raum voller Gäste gesehen, die stundenlang um einen Flügel herum sangen – außer in alten Filmen. Mit allen anwesenden weiblichen Singles zu tanzen, war nichts Ungewöhnliches für ihn. Dies aber zu tun, bis das Sonnenlicht durch die Penthouse-Fenster schien und Devlin Barons Dienstmädchen den verbliebenen zwanzig oder dreißig Gästen Frühstück servierte, war eine weitere Premiere.
Irgendwie hatte Connie Danner ihn in einem Moment der Schwäche und in letzter Minute überredet, ihre Begleitung auf einer Black Tie Hochzeit zu sein. Heute Abend! Also noch eine verflixte Hochzeit. Im vergangenen Jahr war er auf mehr Hochzeiten gewesen als in den zehn Jahren zuvor. Als Andrew Baron geheiratet hatte, war der innere Zirkel der College-Freunde, der nichts dagegen gehabt hatte, für eine gute Jachtparty spontan nach Monaco zu fliegen, nicht ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen worden. Als sein bester Partykumpel Kyle geheiratet und seinen Partyhut an den Nagel gehängt hatte, schien ein Dominoeffekt der einknickenden Junggesellen eingesetzt zu haben. Seine übriggebliebenen Mitstreiter der begehrtesten Junggesellen waren nicht mehr aus demselben Holz geschnitzt wie diejenigen, die nun einen Ring am Finger hatten.
Nach weniger als zehn Minuten Fahrt klingelte sein Handy, und der Name seiner Mutter blinkte auf dem Armaturenbrett auf. Er drückte einen Knopf am Lenkrad und nahm den Anruf entgegen. „Hey, Mom.“
„Du bist spät dran.“
Nach einem raschen Blick auf die Uhr vor ihm runzelte er die Stirn und zwang sich, in Gedanken durchzugehen, wofür er spät dran war.
„Margaret sitzt beleidigt in der Küche. Du weißt, wie sehr sie es hasst, Essen warmzuhalten.“
Der Brunch! „Tut mir leid, Mom. Ich bin in etwa fünfzehn Minuten da.“
„Bis gleich, mein Sohn.« Ihre Stimme wurde wieder sanft. „Ich hab dich lieb.“
„Hab dich auch lieb.“ Wie müde er auch sein mochte, die Angewohnheit seiner Mutter, lieber „Ich liebe dich“ als »Auf Wiedersehen“ zu sagen, brachte ihn immer zum Lächeln.
An der nächsten Ampel krempelte er seine Ärmel hoch, öffnete einen weiteren Knopf seines Hemds und nahm sich vor, dass er seine Halbschuhe aus dem Kofferraum holen und gegen die Anzugschuhe tauschen würde. Auch wenn er kein Teenager mehr war, der seine nächtlichen Eskapaden vor seinen Eltern geheim halten musste, konnte er zumindest verbergen, dass er die ganze Nacht gefeiert hatte.
Sein Telefon summte mit einer Nachricht, während er auf das Grundstück seiner Familie fuhr. Das Armaturenbrett zeigte sie an. Connie würde eine Stunde früher in der Kirche sein müssen, um sich mit den anderen Brautjungfern umzuziehen, aber ihr Auto hatte auf der Heimfahrt komische Geräusche gemacht. Er möge sie bitte abholen, anstatt sie dort zu treffen. Obwohl er lieber etwas Zeit für ein Nickerchen gehabt hätte, würde er nun in einer leeren Kirche auf eine weitere Hochzeitsgesellschaft warten müssen. Als er den Wagen vor dem Haus geparkt hatte, schrieb er Connie, dass das kein Problem sei, steckte das Telefon in seine Tasche und ging die Treppe hinauf.
Sein Vater, der bereits am Tisch saß, ließ den Blick beiläufig über Jack schweifen, bevor sich die vertrauten tiefen Falten zwischen seinen Brauen bildeten. „Lange Nacht?“
Jack widerstand dem Drang, das zu bejahen und sich zu entschuldigen, und senkte einfach nur kurz das Kinn, bevor er sich für eine kurze Umarmung und einen Begrüßungskuss zu seiner Mutter beugte. „Spielt ihr heute Nachmittag Bridge?“
Mit einem süßen Lächeln schmierte seine Mutter Marmelade auf ein Croissant und nickte. „Die McKenzies sind in Europa, also spielen wir mit den Whitehalls. Das dürfte interessant werden.“
Jack bediente sich am Buffet und rief sich die Whitehalls in Erinnerung. „Betrügen die nicht ständig beim Kartenspiel?“
„Das tun beide“, murmelte sein Vater, die Kaffeetasse vor seine Lippen haltend.
„Wir haben einen Plan.“ Seine Mutter lächelte ihn verschmitzt an. „Wir werden darauf bestehen, dass die Männer gegen die Frauen spielen. Tiffany wird also keinen Partner haben, dem sie ein Zeichen geben kann.“
Jack lächelte seine Mutter an. Sie hatte stets eine Lösung für jedes Problem.
„Apropos Partner.« Sein Vater stellte seine Kaffeetasse auf dem Tisch ab. „Du wirst nicht jünger.“
Und jetzt folgte wieder die bekannte Leier. Seit Jacks fünfunddreißigstem Geburtstag hatte sein Vater immer vehementer darauf bestanden, dass es für ihn an der Zeit war, sesshaft zu werden. Seit Kyles Hochzeit hatte sein Vater einen Weg gefunden, das Thema in jedes Gespräch einzubauen. „Keiner von uns wird es.“
„Du weißt, was ich meine.“ Sein Vater schnappte sich ein warmes Croissant und brach es auseinander. „Sogar Kyle Baron hat eine nette Frau gefunden. Bei dem Tempo, das du an den Tag legst, wirst du ein Gebiss tragen, während du Kinder großziehst.“
„Kein Grund zur Übertreibung, Dad. So alt bin ich nun auch wieder nicht.“
„Du bist auch nicht mehr sonderlich jung.“ Touché. Jack musste zugeben, dass er Kyle und seine Brüder ein wenig beneidete, aber manche Männer waren einfach nicht dafür geschaffen, sesshaft zu werden. Jack war kein häuslicher Typ. Sein Vater würde früher oder später einfach akzeptieren müssen, dass abendliches Fernsehen mit der Gattin und nächtliches Windelnwechseln beim Baby für Jack nicht infrage kamen.