Kyle: Du bist mein Hauptgewinn
Kapitel 1
„Willst du mir einen Herzinfarkt verpassen?“ Kyle Barons Schwester Eve warf ihre Handtasche auf das weiße Ledersofa auf der Familienjacht und stemmte die Hände in die Hüften. „Hast du eine Ahnung, wie viele Jahre du gerade aus meinem Leben gestrichen hast?“
Mit nur einer Hand schenkte sich Kyle einen Drink ein.
Eve starrte ihren Bruder an. „Ein bisschen früh am Tag, um mit dem Trinken anzufangen, meinst du nicht?“
„Das wäre es, wenn es etwas Stärkeres als Cola wäre.“ Er trank einen Schluck von dem sprudelnden Getränk. „Ich nehme an, Gilbert hat dich angerufen?“
„Ja, hat er.“
Die Schärfe in der Stimme seiner Schwester ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Er tat sein Bestes, um bei dem giftigen Ton nicht zusammenzuzucken. „Und, was hat er gesagt?“
Die Hände immer noch fest in die Hüften gestemmt, starrte sie ihn mit düsterem Blick an. „In einer Mailboxnachricht wurde mir mitgeteilt, dass du Fallschirmspringen warst. Das allein ist nicht sonderlich beunruhigend, wenn man bedenkt, dass Geschwindigkeit und Risiko bei dir an der Tagesordnung sind. Wir sind alle daran gewöhnt. Das Problem ist der nächste Teil. Angeblich hattest du einen kleinen Unfall.“
Er wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen.
„Wie zum Teufel kann man einen kleinen Unfall haben, wenn man aus Tausenden von Metern aus einem Flugzeug springt?“
„Kann man nicht.“
„Genau.“ Jetzt wippte sie mit dem Fuß. »Ich hatte Visionen von deinen blutigen Körperteilen, die kilometerweit über ein leeres Feld verstreut waren.“
Jetzt zuckte er zusammen.
„Gott sei Dank hat mir das Krankenhaus mitgeteilt, dass du noch lebst, bevor ich Mom oder, noch schlimmer, den Gouverneur und Grandma angerufen habe. Die Nachricht, dass du einen Fallschirmsprungunfall hattest, hätte alle drei ins Grab bringen können. Jetzt brauche ich nur noch meinen Friseur, um meine dadurch entstandenen grauen Strähnen zu färben.“
Er würde sich unbedingt mit Gilbert darüber unterhalten müssen, welche Informationen sein Manager an seine Angehörigen weitergab. In Kyles Beruf könnte der Tag kommen, an dem seine Einzelteile wirklich irgendwo herumlagen, und das sollte seiner Familie nicht in einer Mailboxnachricht mitgeteilt werden. „Es tut mir leid. Wirklich.“
Schließlich ließ sie langsam ausatmend die Hände sinken, und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. „Warum konntest du nicht Buchhalter werden?“
Das brachte ihn zum Schmunzeln. Sein ganzes Leben lang hatte seine Mutter versucht, ihn in Richtung einer soliden Karriere zu lenken. Was sie wirklich gemeint hatte, war Sicherheit. Zum Leidwesen seiner Mutter gab es nur wenige Dinge im Leben, die den Adrenalinstoß übertrafen, den man bekam, wenn man mit fast 300 Kilometern pro Stunde über eine Ziellinie fuhr. Wenn es um Nervenkitzel ging, egal ob an Land, auf dem Wasser oder in der Luft, war Kyle voll dabei. Zum Entsetzen seiner Familie hatte er sich für eine risikoreiche Karriere entschieden. Genauer gesagt, für den Rennsport. Es gab kaum etwas Besseres, als über eine Rennstrecke zu rasen und andere im Staub hinter sich zu lassen. Die einzige Karriere, die vielleicht noch belebender war als der Rennsport, war die eines Kampfpiloten. Beide Maschinen waren leistungsstark, erforderten geschickte Piloten mit starken Nerven und boten die Möglichkeit, höchste Geschwindigkeiten zu erreichen. Obwohl niemand daran zweifelte, dass Kyle ein Adrenalinjunkie war, der das Zeug zum Jetpiloten hatte, wusste er, nachdem er im Rampenlicht eines ehemaligen Marineobersts aufgewachsen war, dass es nicht sein Ding war, rund um die Uhr strenge Befehle zu befolgen. Er brauchte Freiheit und wollte tun, was er wollte und wann immer er es wollte.
So war er jetzt mit seiner völlig aufgelösten Schwester hier gelandet. Aber er verspürte nach wie vor die Sucht nach dem Adrenalinrausch, die das Fallschirmspringen stillen würde. Allerdings war er auf diese Weise drauf und dran, den Statistiken über die Lebensweise, die er führte, recht zu geben. Viele Fahrer ereilte das Schicksal nicht auf der Rennstrecke, wie manch ein Zuschauer vielleicht vermuten würde, sondern nach einem Rennen. Es gab nicht wenige, die eine Karriere hinter dem Lenkrad unbeschadet überstanden, nur um dann beim Skifahren oder beim Reinigen der Dachrinne zu verunglücken. Bislang war er unfallfrei davongekommen, aber er könnte sich innerhalb der nächsten sechs Wochen mit einem Gipsverband wiederfinden, allerdings nicht wegen eines Fehlers auf der Rennstrecke, und noch nicht einmal wegen eines Sprungs aus einem Flugzeug. Nein, sein gebrochenes Handgelenk würde auf ein Stück Seife zurückzuführen sein, auf dem er beim Duschen ausgerutscht wäre, nachdem er an einem sonnigen Tag erfolgreich Fallschirm gesprungen war.
„Wie lange wirst du ausfallen müssen?“
Die Worte rissen ihn aus seinen Gedanken über den dummen Sturz und die Herausforderungen, die seine Abwesenheit von der Rennstrecke für sein Team und den Ersatzfahrer bedeuten würde. Kyle suchte nach den richtigen Worten, um seine Schwester wenigstens ein bisschen zu beruhigen. „Vielleicht sechs Wochen.“
„Vielleicht?“ Sie hob eine Augenbraue höher als die andere, seufzte kopfschüttelnd und stand auf. „Ich glaube, ich brauche einen Drink.“
„Ist es nicht ein bisschen zu früh, um mit dem Trinken anzufangen?“, stichelte er.
„Es ist etwa fünf Uhr.“
Kyle folgte seiner Schwester an die Bar und erkannte auf einmal, dass er mit nur einer heilen Hand in nächster Zeit keine Weinflaschen würde entkorken können. Wenigstens war die Verletzung während der Sommerpause passiert – einer der Gründe, warum er überhaupt zum Fallschirmspringen gegangen war. In den verbleibenden drei Wochen der Pause würde er bestenfalls ein oder zwei Saisonrennen verpassen.
„Also.“ Sie schenkte sich ein halbes Glas ihres Lieblings-Merlots ein. „Was ist der Plan?“
„Der Plan?“
„Ja. Du bist verletzt. Du könntest zwar die Schaltwippe bedienen, aber mit einer gegipsten Hand kannst du nicht schnell genug deinen Gurt lösen und das Lenkrad abnehmen, um dich für ein Rennen zu qualifizieren.“
Dessen war er sich sehr wohl bewusst. Es half auch nicht, dass das verdammte Handgelenk trotz der Medikamente, die ihm der Arzt verschrieben hatte, wie verrückt pochte. „Vorerst nicht fahren.“
„Und aus Flugzeugen springen? Oder braucht man dafür zwei Hände?“
„Eine Hand reicht, aber ich habe nicht vor, das in nächster Zeit wieder zu tun.“
„Sehr gut.“ Sie trank genüsslich einen Schluck von ihrem Wein. „Wenigstens muss sich dann keiner von uns Sorgen um dich machen.“
Das brach ihm fast das Herz. Sosehr er es auch liebte, Rennen zu fahren, sosehr hasste er es, seiner Familie Sorgen zu bereiten. „Es tut mir wirklich leid, dass Gilbert dir Angst eingejagt hat.“
„Ich weiß.“ Zum ersten Mal, seit sie auf die Jacht gekommen war, hoben sich ihre Mundwinkel zu einem müden Lächeln. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. „Ich habe eine Idee!“
„Sollte ich mir Sorgen machen?“ Manchmal hatte seine brillante Schwester fantastische Ideen. Und manchmal, nun ja, waren er und seine Brüder besser dran, sich aus dem Staub zu machen.
Sie verdrehte die Augen. „Da du dich in den nächsten Wochen nicht umbringen kannst, solltest du dich auf der Ranch erholen. Grandma würde sich freuen, dich bei sich zu haben, und ich glaube, wenn du unter ihrem Dach lebst, wo du dir keinen Schaden zufügen kannst, werden wir diese kleine Verletzung besser verschmerzen können.“
Seine kleine Schwester hatte nicht ganz unrecht. Das war gar keine so schlechte Idee. Eigentlich war es sogar eine ziemlich gute. Er liebte die Ranch so sehr wie die Jacht, aber vor der Küste vertäut, konnte die Baroness leicht erdrückend werden, besonders sechs Wochen lang. Ja, seine kleine Schwester hatte recht. Die Ranch und die Fürsorge seiner Großmutter wären genau das Richtige für ihn.
* * *
Addison Raymond starrte auf den Bildschirm vor ihr, schüttelte den Kopf, nahm einen Bleistift in die Hand und kritzelte auf einen Notizblock.
„Ich verstehe nicht, wie du diese Dinger benutzen kannst!“ Ihre Kollegin Jen stand in der Tür zu ihrem Büro.
„Du weißt, dass ich keine Minenschreiber mag.“ Schon als kleines Kind hatte sie es geliebt, mit gespitzten Bleistiften zu zeichnen. Minenschreiber hatten sich für sie immer stumpf angefühlt. Außerdem hatte das Surren eines elektrischen Bleistiftspitzers etwas Beruhigendes.
„Du bist möglicherweise auch die einzige Person im Gebäude, die tatsächlich Bleistifte spitzt.“
„Das glaube ich nicht!“ In ihrer Abteilung gab es viele alte Hasen, die noch mit Bleistift und Rechenmaschine arbeiteten. Ehrlich gesagt hatte sie keine Ahnung, warum genau diese Leute eine tief verwurzelte Abneigung gegen Software hatten. Da sie in ihrem aktuellen Projekt nicht vorwärtskam, legte sie den Bleistift beiseite, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und lächelte ihre Kollegin an. „Kann ich dir helfen?“
Jen schüttelte den Kopf. „Nur, wenn du jemanden kennst, der eine Maschinenbauingenieurin sucht, die schon lange nicht mehr in diesem Bereich tätig war.“
„Was? Warum?“
„Deb aus der Personalabteilung hat mir gerade erzählt, dass heute Morgen eine Notfallsitzung der Führungskräfte einberufen wurde.“
Addison schaute den Flur hinunter. Von ihrem Platz aus konnte sie den Besprechungsraum nicht sehen, aber sie hatte gesehen, wie der Vorstandsvorsitzende und ein paar andere hohe Tiere des Unternehmens vor ein paar Stunden aus dem Aufzug gestiegen waren. „Bist du sicher, dass es sich nicht um ein geplantes Meeting handelt? Du weißt ja, wie sehr die Jungs es lieben, voreinander anzugeben, und dafür jeden Vorwand nutzen.“
„Schön wär’s! Man munkelt, dass die Quartalsberichte vorliegen und desaströs sind. Die Vorhersage für das nächste Quartal ist auch nicht besser.“
„Das wäre nicht das erste Mal, dass die Zahlen schlecht sind. Wir haben schon öfter Konjunkturabschwünge überlebt.“
Jen setzte sich auf die Schreibtischkante. „Diesmal fühlt es sich anders an. Elektroautos und grüne Energie waren damals nicht so populär wie heute.“
„Und galten auch nicht als politisch korrekt.“ Sosehr sie sich auch wünschte, dass es nicht so wäre, so bildete sich doch ein Knoten in Addisons Magen angesichts der schlechten Nachrichten und des Branchenklatschs. „Hoffen wir einfach, dass die Gerüchteküche sich geirrt hat.“
„Ja, hoffentlich.“
So schwierig es auch war, Addison bemühte sich zu lächeln. „Wie ich schon sagte, wir haben schon Schlimmeres überstanden.“
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Jen stieß sich vom Schreibtisch ab. „Ich werde zurück in mein Büro gehen. Für den Fall, dass du recht hast und ich noch einen Job habe.“
„Das ist gut“, erwiderte Addison kichernd. „Bewahre dir deine positive Einstellung!“
Jen verdrehte die Augen und winkte ihr mit einem Finger. Dann ging sie davon.
Addison griff nach ihrem gespitzten Bleistift und konzentrierte sich wieder auf ihre anstehenden Aufgaben. Sie wusste, dass die Antwort direkt vor ihr lag, aber sie konnte sie einfach nicht sehen. Vielleicht war es Zeit für ein wenig frische Luft, um ihr Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen. Zwischen ihrem Arbeitsplatz hier in der Stadt und ihrem Büro zu Hause verbrachte sie viel zu viel Zeit am Schreibtisch. Sie musste endlich aufhören, ihre Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Mehr Zeit mit Freunden verbringen. Sich einen Film in einem richtigen Kino mit echtem Surround-Sound ansehen. Sie wagte nicht, darüber nachzudenken, wie lange es her war, dass sie eine Stunde mit jemandem verbracht hatte, der nicht auf der Gehaltsliste der Firma stand.
Sobald das Projekt abgeschlossen wäre, würde sie das tun. Aber jetzt schlenderte sie mit einer Wasserflasche in der Hand den Flur entlang und drückte auf den Aufzugsknopf. Eines der Dinge, die sie an der Arbeit in der Innenstadt von Houston zu dieser Jahreszeit liebte, war der Zugang zur Dachterrasse. Ein paar Minuten hoch über der Stadt würden ihr eine neue Perspektive bescheren.
Die Tür hinter ihr ging auf, und einer nach dem anderen verließen die Führungskräfte den Sitzungssaal. Leises Gemurmel erfüllte den schmalen Flur, das langsam zu einer erdrückenden Stille verebbte. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Addison war versucht zu warten, falls jemand etwas Wichtiges und hoffentlich Beruhigendes sagen würde. Aber dann überlegte sie es sich anders. Schließlich wurde sie fürs Arbeiten bezahlt und nicht fürs Lauschen.
Drei der Führungskräfte stiegen mit ihr in den Aufzug. Es herrschte Stille. Auf der Chefetage traten sie schweigend aus dem Lift. Die Knoten in Addisons Magen verdrehten sich noch mehr. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Jen recht gehabt hatte. Etwas sehr Unangenehmes war in dieser morgendlichen Besprechung vorgefallen, und wenn sie sich am Ende nicht nach einem neuen Job würde umsehen müssen, dann hieße sie nicht Addison Lynn Ray.
„Willst du mir einen Herzinfarkt verpassen?“ Kyle Barons Schwester Eve warf ihre Handtasche auf das weiße Ledersofa auf der Familienjacht und stemmte die Hände in die Hüften. „Hast du eine Ahnung, wie viele Jahre du gerade aus meinem Leben gestrichen hast?“
Mit nur einer Hand schenkte sich Kyle einen Drink ein.
Eve starrte ihren Bruder an. „Ein bisschen früh am Tag, um mit dem Trinken anzufangen, meinst du nicht?“
„Das wäre es, wenn es etwas Stärkeres als Cola wäre.“ Er trank einen Schluck von dem sprudelnden Getränk. „Ich nehme an, Gilbert hat dich angerufen?“
„Ja, hat er.“
Die Schärfe in der Stimme seiner Schwester ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Er tat sein Bestes, um bei dem giftigen Ton nicht zusammenzuzucken. „Und, was hat er gesagt?“
Die Hände immer noch fest in die Hüften gestemmt, starrte sie ihn mit düsterem Blick an. „In einer Mailboxnachricht wurde mir mitgeteilt, dass du Fallschirmspringen warst. Das allein ist nicht sonderlich beunruhigend, wenn man bedenkt, dass Geschwindigkeit und Risiko bei dir an der Tagesordnung sind. Wir sind alle daran gewöhnt. Das Problem ist der nächste Teil. Angeblich hattest du einen kleinen Unfall.“
Er wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen.
„Wie zum Teufel kann man einen kleinen Unfall haben, wenn man aus Tausenden von Metern aus einem Flugzeug springt?“
„Kann man nicht.“
„Genau.“ Jetzt wippte sie mit dem Fuß. »Ich hatte Visionen von deinen blutigen Körperteilen, die kilometerweit über ein leeres Feld verstreut waren.“
Jetzt zuckte er zusammen.
„Gott sei Dank hat mir das Krankenhaus mitgeteilt, dass du noch lebst, bevor ich Mom oder, noch schlimmer, den Gouverneur und Grandma angerufen habe. Die Nachricht, dass du einen Fallschirmsprungunfall hattest, hätte alle drei ins Grab bringen können. Jetzt brauche ich nur noch meinen Friseur, um meine dadurch entstandenen grauen Strähnen zu färben.“
Er würde sich unbedingt mit Gilbert darüber unterhalten müssen, welche Informationen sein Manager an seine Angehörigen weitergab. In Kyles Beruf könnte der Tag kommen, an dem seine Einzelteile wirklich irgendwo herumlagen, und das sollte seiner Familie nicht in einer Mailboxnachricht mitgeteilt werden. „Es tut mir leid. Wirklich.“
Schließlich ließ sie langsam ausatmend die Hände sinken, und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. „Warum konntest du nicht Buchhalter werden?“
Das brachte ihn zum Schmunzeln. Sein ganzes Leben lang hatte seine Mutter versucht, ihn in Richtung einer soliden Karriere zu lenken. Was sie wirklich gemeint hatte, war Sicherheit. Zum Leidwesen seiner Mutter gab es nur wenige Dinge im Leben, die den Adrenalinstoß übertrafen, den man bekam, wenn man mit fast 300 Kilometern pro Stunde über eine Ziellinie fuhr. Wenn es um Nervenkitzel ging, egal ob an Land, auf dem Wasser oder in der Luft, war Kyle voll dabei. Zum Entsetzen seiner Familie hatte er sich für eine risikoreiche Karriere entschieden. Genauer gesagt, für den Rennsport. Es gab kaum etwas Besseres, als über eine Rennstrecke zu rasen und andere im Staub hinter sich zu lassen. Die einzige Karriere, die vielleicht noch belebender war als der Rennsport, war die eines Kampfpiloten. Beide Maschinen waren leistungsstark, erforderten geschickte Piloten mit starken Nerven und boten die Möglichkeit, höchste Geschwindigkeiten zu erreichen. Obwohl niemand daran zweifelte, dass Kyle ein Adrenalinjunkie war, der das Zeug zum Jetpiloten hatte, wusste er, nachdem er im Rampenlicht eines ehemaligen Marineobersts aufgewachsen war, dass es nicht sein Ding war, rund um die Uhr strenge Befehle zu befolgen. Er brauchte Freiheit und wollte tun, was er wollte und wann immer er es wollte.
So war er jetzt mit seiner völlig aufgelösten Schwester hier gelandet. Aber er verspürte nach wie vor die Sucht nach dem Adrenalinrausch, die das Fallschirmspringen stillen würde. Allerdings war er auf diese Weise drauf und dran, den Statistiken über die Lebensweise, die er führte, recht zu geben. Viele Fahrer ereilte das Schicksal nicht auf der Rennstrecke, wie manch ein Zuschauer vielleicht vermuten würde, sondern nach einem Rennen. Es gab nicht wenige, die eine Karriere hinter dem Lenkrad unbeschadet überstanden, nur um dann beim Skifahren oder beim Reinigen der Dachrinne zu verunglücken. Bislang war er unfallfrei davongekommen, aber er könnte sich innerhalb der nächsten sechs Wochen mit einem Gipsverband wiederfinden, allerdings nicht wegen eines Fehlers auf der Rennstrecke, und noch nicht einmal wegen eines Sprungs aus einem Flugzeug. Nein, sein gebrochenes Handgelenk würde auf ein Stück Seife zurückzuführen sein, auf dem er beim Duschen ausgerutscht wäre, nachdem er an einem sonnigen Tag erfolgreich Fallschirm gesprungen war.
„Wie lange wirst du ausfallen müssen?“
Die Worte rissen ihn aus seinen Gedanken über den dummen Sturz und die Herausforderungen, die seine Abwesenheit von der Rennstrecke für sein Team und den Ersatzfahrer bedeuten würde. Kyle suchte nach den richtigen Worten, um seine Schwester wenigstens ein bisschen zu beruhigen. „Vielleicht sechs Wochen.“
„Vielleicht?“ Sie hob eine Augenbraue höher als die andere, seufzte kopfschüttelnd und stand auf. „Ich glaube, ich brauche einen Drink.“
„Ist es nicht ein bisschen zu früh, um mit dem Trinken anzufangen?“, stichelte er.
„Es ist etwa fünf Uhr.“
Kyle folgte seiner Schwester an die Bar und erkannte auf einmal, dass er mit nur einer heilen Hand in nächster Zeit keine Weinflaschen würde entkorken können. Wenigstens war die Verletzung während der Sommerpause passiert – einer der Gründe, warum er überhaupt zum Fallschirmspringen gegangen war. In den verbleibenden drei Wochen der Pause würde er bestenfalls ein oder zwei Saisonrennen verpassen.
„Also.“ Sie schenkte sich ein halbes Glas ihres Lieblings-Merlots ein. „Was ist der Plan?“
„Der Plan?“
„Ja. Du bist verletzt. Du könntest zwar die Schaltwippe bedienen, aber mit einer gegipsten Hand kannst du nicht schnell genug deinen Gurt lösen und das Lenkrad abnehmen, um dich für ein Rennen zu qualifizieren.“
Dessen war er sich sehr wohl bewusst. Es half auch nicht, dass das verdammte Handgelenk trotz der Medikamente, die ihm der Arzt verschrieben hatte, wie verrückt pochte. „Vorerst nicht fahren.“
„Und aus Flugzeugen springen? Oder braucht man dafür zwei Hände?“
„Eine Hand reicht, aber ich habe nicht vor, das in nächster Zeit wieder zu tun.“
„Sehr gut.“ Sie trank genüsslich einen Schluck von ihrem Wein. „Wenigstens muss sich dann keiner von uns Sorgen um dich machen.“
Das brach ihm fast das Herz. Sosehr er es auch liebte, Rennen zu fahren, sosehr hasste er es, seiner Familie Sorgen zu bereiten. „Es tut mir wirklich leid, dass Gilbert dir Angst eingejagt hat.“
„Ich weiß.“ Zum ersten Mal, seit sie auf die Jacht gekommen war, hoben sich ihre Mundwinkel zu einem müden Lächeln. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. „Ich habe eine Idee!“
„Sollte ich mir Sorgen machen?“ Manchmal hatte seine brillante Schwester fantastische Ideen. Und manchmal, nun ja, waren er und seine Brüder besser dran, sich aus dem Staub zu machen.
Sie verdrehte die Augen. „Da du dich in den nächsten Wochen nicht umbringen kannst, solltest du dich auf der Ranch erholen. Grandma würde sich freuen, dich bei sich zu haben, und ich glaube, wenn du unter ihrem Dach lebst, wo du dir keinen Schaden zufügen kannst, werden wir diese kleine Verletzung besser verschmerzen können.“
Seine kleine Schwester hatte nicht ganz unrecht. Das war gar keine so schlechte Idee. Eigentlich war es sogar eine ziemlich gute. Er liebte die Ranch so sehr wie die Jacht, aber vor der Küste vertäut, konnte die Baroness leicht erdrückend werden, besonders sechs Wochen lang. Ja, seine kleine Schwester hatte recht. Die Ranch und die Fürsorge seiner Großmutter wären genau das Richtige für ihn.
* * *
Addison Raymond starrte auf den Bildschirm vor ihr, schüttelte den Kopf, nahm einen Bleistift in die Hand und kritzelte auf einen Notizblock.
„Ich verstehe nicht, wie du diese Dinger benutzen kannst!“ Ihre Kollegin Jen stand in der Tür zu ihrem Büro.
„Du weißt, dass ich keine Minenschreiber mag.“ Schon als kleines Kind hatte sie es geliebt, mit gespitzten Bleistiften zu zeichnen. Minenschreiber hatten sich für sie immer stumpf angefühlt. Außerdem hatte das Surren eines elektrischen Bleistiftspitzers etwas Beruhigendes.
„Du bist möglicherweise auch die einzige Person im Gebäude, die tatsächlich Bleistifte spitzt.“
„Das glaube ich nicht!“ In ihrer Abteilung gab es viele alte Hasen, die noch mit Bleistift und Rechenmaschine arbeiteten. Ehrlich gesagt hatte sie keine Ahnung, warum genau diese Leute eine tief verwurzelte Abneigung gegen Software hatten. Da sie in ihrem aktuellen Projekt nicht vorwärtskam, legte sie den Bleistift beiseite, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und lächelte ihre Kollegin an. „Kann ich dir helfen?“
Jen schüttelte den Kopf. „Nur, wenn du jemanden kennst, der eine Maschinenbauingenieurin sucht, die schon lange nicht mehr in diesem Bereich tätig war.“
„Was? Warum?“
„Deb aus der Personalabteilung hat mir gerade erzählt, dass heute Morgen eine Notfallsitzung der Führungskräfte einberufen wurde.“
Addison schaute den Flur hinunter. Von ihrem Platz aus konnte sie den Besprechungsraum nicht sehen, aber sie hatte gesehen, wie der Vorstandsvorsitzende und ein paar andere hohe Tiere des Unternehmens vor ein paar Stunden aus dem Aufzug gestiegen waren. „Bist du sicher, dass es sich nicht um ein geplantes Meeting handelt? Du weißt ja, wie sehr die Jungs es lieben, voreinander anzugeben, und dafür jeden Vorwand nutzen.“
„Schön wär’s! Man munkelt, dass die Quartalsberichte vorliegen und desaströs sind. Die Vorhersage für das nächste Quartal ist auch nicht besser.“
„Das wäre nicht das erste Mal, dass die Zahlen schlecht sind. Wir haben schon öfter Konjunkturabschwünge überlebt.“
Jen setzte sich auf die Schreibtischkante. „Diesmal fühlt es sich anders an. Elektroautos und grüne Energie waren damals nicht so populär wie heute.“
„Und galten auch nicht als politisch korrekt.“ Sosehr sie sich auch wünschte, dass es nicht so wäre, so bildete sich doch ein Knoten in Addisons Magen angesichts der schlechten Nachrichten und des Branchenklatschs. „Hoffen wir einfach, dass die Gerüchteküche sich geirrt hat.“
„Ja, hoffentlich.“
So schwierig es auch war, Addison bemühte sich zu lächeln. „Wie ich schon sagte, wir haben schon Schlimmeres überstanden.“
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Jen stieß sich vom Schreibtisch ab. „Ich werde zurück in mein Büro gehen. Für den Fall, dass du recht hast und ich noch einen Job habe.“
„Das ist gut“, erwiderte Addison kichernd. „Bewahre dir deine positive Einstellung!“
Jen verdrehte die Augen und winkte ihr mit einem Finger. Dann ging sie davon.
Addison griff nach ihrem gespitzten Bleistift und konzentrierte sich wieder auf ihre anstehenden Aufgaben. Sie wusste, dass die Antwort direkt vor ihr lag, aber sie konnte sie einfach nicht sehen. Vielleicht war es Zeit für ein wenig frische Luft, um ihr Gehirn mit Sauerstoff zu versorgen. Zwischen ihrem Arbeitsplatz hier in der Stadt und ihrem Büro zu Hause verbrachte sie viel zu viel Zeit am Schreibtisch. Sie musste endlich aufhören, ihre Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Mehr Zeit mit Freunden verbringen. Sich einen Film in einem richtigen Kino mit echtem Surround-Sound ansehen. Sie wagte nicht, darüber nachzudenken, wie lange es her war, dass sie eine Stunde mit jemandem verbracht hatte, der nicht auf der Gehaltsliste der Firma stand.
Sobald das Projekt abgeschlossen wäre, würde sie das tun. Aber jetzt schlenderte sie mit einer Wasserflasche in der Hand den Flur entlang und drückte auf den Aufzugsknopf. Eines der Dinge, die sie an der Arbeit in der Innenstadt von Houston zu dieser Jahreszeit liebte, war der Zugang zur Dachterrasse. Ein paar Minuten hoch über der Stadt würden ihr eine neue Perspektive bescheren.
Die Tür hinter ihr ging auf, und einer nach dem anderen verließen die Führungskräfte den Sitzungssaal. Leises Gemurmel erfüllte den schmalen Flur, das langsam zu einer erdrückenden Stille verebbte. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Addison war versucht zu warten, falls jemand etwas Wichtiges und hoffentlich Beruhigendes sagen würde. Aber dann überlegte sie es sich anders. Schließlich wurde sie fürs Arbeiten bezahlt und nicht fürs Lauschen.
Drei der Führungskräfte stiegen mit ihr in den Aufzug. Es herrschte Stille. Auf der Chefetage traten sie schweigend aus dem Lift. Die Knoten in Addisons Magen verdrehten sich noch mehr. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Jen recht gehabt hatte. Etwas sehr Unangenehmes war in dieser morgendlichen Besprechung vorgefallen, und wenn sie sich am Ende nicht nach einem neuen Job würde umsehen müssen, dann hieße sie nicht Addison Lynn Ray.